Rezension: Alastairs Reynolds: Das Schiff der flüsternden Träume
rezensiert von Hardy Vollmer (Radio Dreyeckland Freiburg)
Das Buchcover von Alastairs Reynolds neuem Roman: „Das Schiff der flüsternden Träume“ zeigt ein Raumschiff segelnd in den Weiten des geheimnisvollen Kosmos. Nimmt man dann aber den Roman lesend zur Hand, dann befinden wir uns im 19. Jahrhundert auf einem Schiff, das an der Küste Norwegens in Richtung Arktis segelt. Was zunächst widersprüchlich wirkt, stellt sich bald als ein Art Grundmotiv des Romans heraus: Wie wirklich ist die Wirklichkeit. Die Leserin und der Leser werden sich im Laufe des Romans an viele merkwürdige Wirklichkeiten gewöhnen müssen. Die Handlung entwickelt sich nicht kontinuierlich fort, sondern bietet viele verschieden Möglichkeiten der Entwicklung der Handlung an. Freundinnen und Freunde von Paralellwelten werden beim Lesen des Romans ihre Freude haben.
Von Freude kann allerdings dabei bei der Hauptperson und Erzähler des Romans keine Rede sein, er leidet. Der Schiffsarzt Dr. Silas Coade leidet schon daran, dass er sich überhaupt auf einem Schiff befindet. Die Seekrankheit plagt ihn über die Seiten hinweg und immer wieder fragt er sich, wann er wieder nach Hause kommt. Aber das Übel der Seekrankheit ist noch harmlos gegenüber den Widrigkeiten, die ihm im Laufe der Handlung drohen und die ihn wiederholt daran zweifeln lassen, ob er überhaupt noch unter den Lebenden weilt. Der Titel des Romans ist dabei gut gewählt. Ob sich Silas Coade in einem fortwährendem Traum befindet oder nicht ist weder ihm noch den Lesenden klar, aber was sicher ist: Jeder Traum führt in den Alptraum.
Was die alptraumhafte Stimmung in dem Roman noch verstärkt ist, das weder der Schiffsarzt noch sonst jemand von der Mannschaft weiß, wohin die Reise geht. Nur eine kleine Anzahl dubioser Gestalten scheint das Reiseziel zu kennen: der zwielichtige Schiffseigner Topalski, sein Bodyguard Ramos, das irrlichternde Mathegenie Dupin und die elfengleiche Milady Cossile, die sich gleichwohl in der höheren Grammatik und Mathematik auskennt. In immer wieder neuen Handlungskonstruktionen lässt der Autor die Personen agieren, als wenn er prüfen will, wie weit sie in immer extremeren Situationen handlungsfähig bleiben - oder untergehen müssen. Und so treibt das Schiff und mit ihm die Leserin und der Leser in immer spannungsgeladenen Szenarien auf das eigentlich Ziel zu: einer ominösen Struktur mit dem geheimnisvollen Namen: "Das Bauwerk".
Die Enthüllung oder besser im wahrsten Sinne des Wortes die "Entlarvung" von Sinn und Zweck des "Bauwerkes" wird für den Erzähler Silas Coades und die Lesenden zu einem verwirrenden Rätselspiel. Gleichsam wie russische Matroschka-Puppen enthüllt sich Puppe für Puppe die Realität der Handlung. Dabei wendet der Autor interessante Stilmittel an. So schreibt der Schiffsarzt in seinen Mußestunden an einem Roman, der die Ereignisse gleichsam vorweg nimmt, aber immer in verklausulierter Form, so dass sich permanente Deja-Vu Ereignisse einstellen. Auch anderen Personen geht das so. Offenbar wissen alle um was es geht, stochern aber trotzdem im dunklem Nebel herum. Manchmal blitzt kurz eine Erkenntnis von einer anderen Realität auf. So als Ramos sich erinnert, schon mal für eine andere Person Bodyguard gespielt zu haben. Dabei war er nicht so erfolgreich, weil die Person erschlagen wurde. Alastair Reynolds erlaubt sich hier einen kleinen makabren Spass. Ramos, von dem die Lesenden wissen, dass er aus Mexiko stammt, erinnert sich an die Ermordung Leo Trotzkys, der bekanntlich von seinem Leibwächter mit dem Vornamen "Ramon" in Mexiko erschlagen wurde. Auch der Leserin und dem Leser geht es im Laufe der Handlung so, dass Andeutungen aus vorangehenden Kapiteln, die zunächst unverständlich wirken, plötzlich einen Sinn für die Handlung des Romans haben. Es lohnt sich also den Roman genau zu lesen, denn es zeigen sich immer wieder Beschreibungen, die die weitere Handlung "entlarven". Es macht wirklich großen Spaß, in diesem Verwirrspiel den roten Faden zu finden. Aber, man muss damit rechnen, das weder den Romangestalten noch den Lesenden das immer gelingt.
Ach so. Um die Handlung letztlich zu verstehen, sollte man sich in der höheren Geometrie und Mathematik auskennen. Die Begriffe Topologie, Phasenübergänge, Sphären und deren Umstülpung, Hyperraummannigfaltigkeiten, Inversion und Eversion sollten vertraut sein. Und natürlich sollten Kenntnisse über alle Feinheiten des aktuellen Standes der künstlichen Intelligenz greifbar sein. Aber zu Beruhigung, wenn man den Roman gelesen hat, wird man wissen, daß auch alles ganz anders sein kann und man mit einem Interesse an literarischen Konstruktion und wissenschaftlichen Theorien dem Gang der Handlung mit Genuss folgen kann. Ich denke Alastair Reynolds hat mit seinem Roman die besten Herausforderungen erfüllt, die man von einem Roman aus dem Bereich der wissenschaftlichen Fiktion, erwarten kann. (Hardy Vollmer 31.8.2025)