Cannes-Kritiken, die Vierte

Draußen ist verdammt weit weg
Philipp Kochs knallharter Knast-Psychothriller „Picco“
Von Martin Koch 

„Wenn ich sterbe, komme ich in den Himmel, denn in der Hölle war ich vorher schon“. Das ist einer von vielen Schriftzügen, der die schmutzigen Wände des Jugendgefängnisses in diesem Film ziert. Was schauderhaft klingt, sind die einzigen Worte, die den jungen Insassen in ihrem trostlosen und immer wieder von schockierenden Erlebnissen durchzogenen Alltag einen Ansatz von Trost spenden. „Hör auf, an draußen zu denken! Wir sind sowieso am Arsch und können jetzt machen, was wir wollen“, sagt der länger einsitzende Marc (Frederick Lau) dem Neuling Kevin (Constantin von Jascheroff). Worte, die den durch eine Unbeherrschtheit im Suff einsitzenden Kevin zu einer furchtbaren Tat treiben werden. 

Cannes-Kritiken, die Vierte

Draußen ist verdammt weit weg
Philipp Kochs knallharter Knast-Psychothriller „Picco“
Von Martin Koch 

„Wenn ich sterbe, komme ich in den Himmel, denn in der Hölle war ich vorher schon“. Das ist einer von vielen Schriftzügen, der die schmutzigen Wände des Jugendgefängnisses in diesem Film ziert. Was schauderhaft klingt, sind die einzigen Worte, die den jungen Insassen in ihrem trostlosen und immer wieder von schockierenden Erlebnissen durchzogenen Alltag einen Ansatz von Trost spenden. „Hör auf, an draußen zu denken! Wir sind sowieso am Arsch und können jetzt machen, was wir wollen“, sagt der länger einsitzende Marc (Frederick Lau) dem Neuling Kevin (Constantin von Jascheroff). Worte, die den durch eine Unbeherrschtheit im Suff einsitzenden Kevin zu einer furchtbaren Tat treiben werden. 

In Philipp Kochs Film „Picco“ wird jeder Ansatz von political correctness bei der Darstellung des Knastlebens von Beginn an über Bord geworfen. Nach kurzer Zeit lernt Kevin die Mechanismen der Hackordnung unter den Gefangenen kennen: es gilt das Recht des Stärkeren und wer alleine steht, geht unter. So geht es Hendrick nachdem dessen Vergangenheit auf dem Schwulenstrich bekannt wird. Von einem verurteilten Mörder wird er vergewaltigt, wobei Kevin und Tommy (Joel Basman) Zeugen werden, aber schweigen. Ihre unterlassene Hilfeleistung könnte der Film nun leicht pauschal verurteilen, jedoch fügt es sich in der Darstellung des Films nahtlos in eine Atmosphäre der Perspektivlosigkeit und Unterdrückung, die durchgehend überall in der Luft liegt, ein. Unter normalen Verhältnissen müsste man die Handlungen der Figuren in diesem Film allesamt aufs Schärfste verurteilen, doch innerhalb dieses Gefängnisses fügen sie sich wie Mosaiksteinchen zu einem furchterregendes Gebilde aus Resignation, Fatalismus und Überlebenskampf zusammen. 

Macht es sich „Picco“ mit dieser zugespitzten bis reißerischen Darstellung des Jugendgefängnisses zu einfach?
Ja insofern, dass die gezeigten Ereignisse von der Vergewaltigung über den Selbstmord bis zum Mord an Drastik nicht zu überbieten sind. Dass hier nicht Gefängnis-Alltag sondern Extremfälle im Mittelpunkt stehen ist unübersehbar.
Nein insofern, dass diese vom grausig präzisen Drehbuch konstruierten Ereignisse in einen Alltag einfügen, der sich nur schwer als pure Fiktion abtun lässt. Der Umgangston unter den jungen Gefangenen mag zu Beginn wegen dem hohen Anteil von Gossenslang gewöhnungsbedürftig wirken, er liefert aber gleichzeitig Anstöße zur Deutung der Regeln nach der diese mit Zerstörungswut aufgeladenen Männerwelt funktioniert. Wer die anderen von seiner Männlichkeit überzeugt wird nicht angetastet und wie kann man seine Männlichkeit schon besser herausstellen, als durch Denunziation Schwächerer als impotent und schwul, als die Kleinen, die „Piccos“ – ein schwarzer Peter, der hier durchgehend seine Kreise zieht und keinen, der ihn einmal hatte unbehelligt seiner Wege gehen lässt. Die im Film greifbare Physis dieser Bedrohung wird am Ende nicht nur Hendrick, sondern später auch Tommy und Kevin zum Verhängnis. 

Letztendlich hat Philipp Koch (übrigens mit dem Autor dieser Kritik weder verwandt noch verschwägert) einen streitbaren Film gemacht, der seine Zuschauer polarisieren und hoffentlich auch Diskussionen über die Darstellung von Gewalt und die Darstellungen von Gefängnissen nach sich ziehen wird. Für einen vergnüglichen Kinoabend ist dieser Film zwar denkbar ungeeignet, jedoch hat er unverkennbar Qualitäten, die auch schon „Das Experiment“ und „Knallhart“ ausgezeichnet haben, denn er geht stilsicher dahin wo es wehtut ohne dabei das Hirn auszuschalten. „Picco“ ist ein brutaler Film, allerdings nicht nur weil er brutal sein kann und will, sondern vor allem weil er brutal sein muss.