Zu Baubeginn im August 2006 hieß es noch, das Vorzeige-Projekt eines "Europäischen Druckwasser-Reaktors" (EPR) am Standort des französischen AKW Flamanville werde für einen Fixpreis von 3,2 Milliarden Euro bis 2012 fertiggestellt. Zum siebten Mal muß nun die französische Kernkraft-Kirche das Datum verschieben. Zuletzt war von 2024 die Rede. Der Grund: Erneut wurden Abweichungen von den Qualitäts-Vorgaben entdeckt.
Ende 2008 hieß es offiziell, daß sich die Bauzeit um ein Jahr - bis 2013 - verzögere und die Baukosten 4 Milliarden Euro betragen werden. Mitte 2010 verkündete der französische Strom-Konzern und AKW-Betreiber EdF die zweite Datums-Verschiebung: Der kommerzielle Betrieb sei erst für 2014 zu erwarten und die Kosten erhöhten sich auf 5 Milliarden Euro. Im Juli 2011 bezifferte EdF die Kosten auf 6 Milliarden Euro und verschob die geplante Inbetriebnahme auf 2016. Im Dezember 2012 gab EdF die vierte Datums-Verschiebung bekannt und mußte zugleich eingestehen, daß die Bau-Kosten um mehr als das Doppelte auf 8,5 Milliarden Euro gestiegen seien. Im Jahr 2015 hieß es: Bis Ende 2018 - bei Kosten von 10,5 Milliarden Euro. Im Jahr 2018 erfolgte die sechste Datums-Verschiebung - auf 2024. Diesmal nun will sich EdF nicht mehr auf eine Jahreszahl festlegen. Und im Gegensatz zu EdF, die nunmehr von Baukosten in Höhe von insgesamt 12,4 Milliarden Euro sprach, bezifferte der französische Rechnungshof diese auf über 19 Milliarden Euro.
Die Sicherheitsvorkehrungen des EPR-Reaktors gegen Erdbeben sind laut offiziellen Angaben lediglich auf eine horizontale Beschleunigung von maximal 3 m/s² ausgelegt. Das Christchurch-Erdbeben vom Februar 2011 in Neuseeland mit einer Stärke von 6,3 auf der Momenten-Magnituden-Skala wies eine horizontale Beschleunigung von über 21 m/s² an der Erdoberfläche auf. Und das Reaktorgebäude eines EPR-Atomkraftwerks ist auch nicht gegen den gezielten Absturz eines Passagier-Flugzeugs wie etwa dem Airbus gehärtet. Würden diese Sicherheitsdefizite auch nur halbwegs berücksichtigt, stiege der Preis pro EPR um weitere 10 Milliarden Euro auf 29 oder 30 Milliarden Euro.
Dabei galten die EPR-Projekte einmal als die große Hoffnung der Kernkraft-Kirche. So war am 3. Juni 2005 im 'Manager Magazin' unter der Überschrift "Die Renaissance der Kernkraft" vom Wunsch zu lesen, daß "Finnland als Vorbild vorangeht und andere gerne nachziehen." Und einige Zeilen weiter wird der damalige Framatome-ANP-Chef Vincent Maurel zitiert: "Seit mehreren Jahren prophezeien wir die Renaissance der Kernkraft. Nun geht Finnland mit dem Bau eines EPR-Reaktors beispielhaft voran." Doch auch das EPR Projekt in Finnland, das schon ein Jahr vor jenem in Flamanville begonnen wurde - im August 2005 - hat sich als Ankündigungs-Desaster erwiesen (Siehe unseren <a href="akwepr180313.html" target=_blank>Artikel v. 13.03.18</a>).
Im Falle Flamanville hat die französische Atomaufsicht ASN aktuell im Primärkreislauf der Reaktor-Kühlung "bedeutende Konstruktionsabweichung" festgestellt. Diese finden sich an drei angeschweißten Verbindungsrohren, die als "set in" bezeichnet werden. Schon die vorangegangene sechste Datums-Verschiebung im Jahr 2018 kam dadurch zustande, daß Pfusch an Schweißnähten im Primärkreislauf entdeckt wurde.
Die damaligen Probleme mit den Schweißnähten hatten zur Folge, daß kurzerhand - und entgegen den Vorgaben - Schweißnähte an jenen drei Stutzen verändert wurden. In den Sicherheitsberechnungen wurden diese Veränderungen jedoch nicht berücksichtigt. Wie schon 2018 sind die Konsequenten, die ASN dem französischen Strom-Konzern EdF auferlegt, wachsweich. Die EdF wurde lediglich aufgefordert, der ASN zu melden, welche Ursachen den Abweichungen zugrunde lägen, warum diese nicht eher bemerkt wurden und wie sie mit dem Problem umzugehen gedenke. Auch die Ausführung nötiger Korrekturmaßnahmen bleibt dem Ermessen der EdF überlassen. Allerdings heißt es zugleich, die ASN wolle keine weiteren Abweichungen im besonders sensiblen primären Kühlkreislauf dulden. Weitere Überprüfungen an Schweißnähten seien nötig.
Es ist jedoch daran zu erinnern, daß sich die französische Atomaufsicht ASN schon in der Vergangenheit des Öfteren als zahnloser Tiger erwies. So duldet die ASN, daß der Deckel des Reaktordruckbehälters, der produktionsbedingte Risse aufweist und daher nicht den Vorgaben entspricht, dennoch eingebaut wird. Er soll dann spätestens sechs Jahre nach Betriebsbeginn ausgetauscht werden. Im Falle der Bodenplatte des Reaktordruckbehälters, die ebenso schadhaft ist, drückt die ASN beide Augen zu. Der Grund: Wenn sie der EdF die Genehmigung verweigert, wäre der gesamte Austausch des Reaktordruckbehälters erforderlich und dies wiederum ginge nicht ohne einen weitgehenden Abriß des Reaktorgebäudes. Die Kosten hierfür wären indiskutabel und als Konsequenz bliebe nur die komplette Aufgabe des EPR-Projekts Flamanville. Also sah sich die ASN gezwungen, unter Mißachtung der eigenen Vorschriften nach dem Prinzip "Profit vor Sicherheit" vorzugehen und die Machenschaften der EdF durchzuwinken (Siehe hierzu unseren <a href="akwfrk171011.html" target=_blank>Artikel v. 11.10.17</a>).
Auch beim französischen Atomkraftwerks-Park an 18 Standorten mit insgesamt 56 Reaktoren gedenkt die ASN offenbar dem Prinzip "Profit vor Sicherheit" zu folgen. Nach der Stilllegung des bis dahin ältesten französischen AKW Fessenheim am 29. Juni 2020 steht eine Verlängerung der Betriebsdauer dieser 18 Atomkraftwerke an. Das AKW Fessenheim war bei seiner Stilllegung über 42 Jahre in Betrieb. Und in den vergangenen 21 Jahren ging in Frankreich kein einziger Atomreaktor neu ans Netz. Laut ASN steht nun eine Verlängerung der Betriebsgenehmigung von 40 auf 50 Jahre an. In der Vorstandsetage der EdF herrscht Zuversicht. Schon im Jahr 2010 hatte der damalige EdF-Chef Henri Proglio davon gesprochen, daß eine Betriebsdauer der französischen Atomkraftwerke von 60 Jahren angestrebt werde. Auch führende VertreterInnen der Kernkraft-Kirche in der Schweiz und in den USA sprechen seit langem von 60 Jahren AKW-Betrieb.
Um dies durchzusetzen, ist es erforderlich, mit Hilfe der Politik den Ausbau der erneuerbaren Energien zu bremsen. Wenn immer wieder in den Mainstream-Medien zu lesen ist, die erneuerbaren Energien würden gefördert, ist dies eine Verkehrung der Tatsachen. Die Subventionierung der Atomenergie beläuft sich bis heute auf ein Vielfaches der Pro-Forma-Förderung der erneuerbaren Energien. Diese Pro-Forma-Förderung der erneuerbaren Energien erfolgte in Deutschland bereits ab 1991 - zur Zeit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl - mit dem Stromeinspeisungsgesetz. Sie diente ausschließlich dazu, die reale Subventionierung von Atomenergie und Kohleverstromung hinter einer Nebelwand zu verbergen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz war keine Erfindung von "Rot-Grün" wie immer wieder zu lesen ist - nur die Bezeichnung des Gesetzes wurde aufgehübscht. Hinter der Nebelwand bestand die gigantische Subventionierung der Strom-Konzerne fort, so daß diese unterm Strich bevorzugt wurden und so der Ausbau der erneuerbaren Energien weiterhin gebremst werden konnte.
Wenn auch von linker Seite immer noch bis heute das Wording vom "Verschlafen der Energiewende" nachgebetet wird, geht dies völlig an der Realität der vergangenen drei Jahrzehnte vorbei. Hellwach haben RWE, E.on und EnBW dafür gesorgt, daß die Energiewende gebremst wurde und weiterhin gebremst wird. Ihnen zu Diensten standen Minister wie Klaus Töpfer, Jürgen Trittin, Sigmar Gabriel oder Svenja Schulze - ganz im Gegensatz zu ihren Sonntagsreden. Und im Unterschied zu manchen Linken, hatte der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer schon 2006 begriffen, warum die großen Strom-Konzerne und AKW-Betreiber auf Gedeih und Verderb dazu gezwungen sind, die Energie-Wende zu torpedieren. Außer im Falle großer Offshore-Windparks können Groß-Konzerne die zwangsläufig dezentralen erneuerbaren Energie nicht in ihr "Portfolio" integrieren. Die Herren in den Vorstandsetagen haben schon vor vielen Jahren begriffen, daß die erneuerbaren Energien ihre Geschäftsmodell zerstören. Und so ist es auch kein Zufall, daß sie Energie-Wende in Baden-Württemberg mit einem angeblich grünen Strom-Konzern EnBW langsamer vorankommt als in den meisten anderen Bundesländern.