Ist der EU-Türkei-Deal eigentlich ein Abkommen? Eine folgenschwere Frage

Ist der EU-Türkei-Deal eigentlich ein Abkommen? Eine folgenschwere Frage

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EU-Flüchtlingspolitik zusammengefasst
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Zum gesamten Beitrag (mit Moderation): 8:13

 

Am Montag hatten die Europaabgeordneten des Innenausschusses den Rechtsdienst der Europäischen Kommission eingeladen. Der Rechtsdienst sollte die rechtliche Basis des flüchtlingspolitischen Deals vom 18. März zwischen der EU und der Türkei klären. Konkret ging es um die Frage: Ist dieser Deal ein Abkommen oder nicht?

Hinter dieser rechtlich-technischen Angelegenheit versteckten sich folgenschwere politische Fragen. Vermutlich unabsichtlich pointiert fasste es der Vertreter des Rechtsdienstes der Europäischen Kommission am Ende der Diskussion mit dem Innenausschuss so zusammen: 0:36

Zusammengefasst vereinbarten die EU und die Türkei mit dem Deal Folgendes. Die EU bietet der Türkei 6 Milliarden Euro an, und stellt ihr einen Fortschritt bei den Beitrittsverhandlungen und visafreie Kurzaufenthalte für Türkinnen in Aussicht. Die Türkei verpflichtet sich hingegen, irreguläre Grenzübertritte in die EU zu verhindern und alle MigrantInnen zurückzunehmen, die ab dem 20. März irregulär von der Türkei in die EU einreisen. Dann gibt es den berühmten Handel mit syrischen Schutzsuchenden, wonach die EU eine Syrerin von der Türkei umsiedelt für jede irregulär eingereiste Syrerin, die in die Türkei abgeschoben wird.

Falls es ein Abkommen war, ist die Umsetzung des Deals verbindlich für die EU und für die Türkei. Aber dieser Deal hätte nicht in Kraft treten und umgesetzt werden dürfen, bevor es vom Europäischen Parlament ratifiziert worden ist. Dabei wurde der Deal am 20. März wirksam und erste Abschiebungen unter diesem Deal gibt es seit Anfang April.

Falls der Deal kein Abkommen, sondern lediglich eine Erklärung ist, dann ist er nicht verbindlich. Weder die EU noch die Türkei könnten sich beschweren, falls sich das andere Land nicht an seinen Zusagen hält. Gleichzeitig muss der Deal in dem Fall nicht vom Parlament gebilligt werden, und es braucht, zumindest aus Sicht des Rechtsdienstes der Kommission, auch nicht mit EU- und Völkerrecht vereinbar zu sein.

Der Rechtsdienst der Kommission argumentierte am Montag nach der Linie, der EU-Türkei-Deal sei eigentlich nichts weiter als eine unverbindliche Erklärung. Es wurde schließlich nichts anderes als eine Presseerklärung veröffentlicht, ohne Unterschriften und ohne die juristische Sprache eines Abkommens. Auch enthielte der Deal keine neuen Verpflichtungen für beide Seiten. Einige der neuen Punkte widerholten das, was in frühere Migrationsabkommen vereinbart wurde, weitere Punkte seien unverbindliche Zusagen, für die es später eine rechtliche Umsetzung durch das Parlament bedürfe, und zwei Punkte seien offensichtlich politische Erklärungen ohne rechtlichen Wert.

Christdemokraten und Konservativen zeigten sich mit der Deutung des Rechtsdienstes der Kommission zufrieden. Europaabgeordnete der Sozialdemokratinnen, Liberalen, Linken und Grünen hingegen zeigten sich in ihren Fragen kritisch zu den Deutungsversuchen der Kommission.

Die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller stellte dem Rechtsdienst eine Reihe von Fragen zu den Möglichkeiten für das Parlament, beim Türkei-Deal einzugreifen: 0:38

Die linke Cornelia Ernst kritisierte vor allem die Unvereinbarkeit des Türkei-Deals mit der Genfer Flüchtlingskonvention: 0:50

Die liberale Cecilia Wikström zeigte sich besonders misstrauisch zum Versuch von Kommission und Mitgliedstaaten, den Deal als Erklärung und nicht als Abkommen zu deuten: 2:13

Nach einer halben Stunde Diskussion war die rechtliche Basis des Türkei-Deals noch nicht abschließend geklärt. Der Rechtsdienst der Europäischen Kommission bestand weiterhin darauf, dass es sich beim Deal lediglich um eine Erklärung handelt.

Es bleibt abzuwarten, ob es die Europaabgeordneten mit dem parlamentarischen Kontrollrecht ernst meinen, und ob sie sich nicht von der Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten durch rechtliche Deutungsversuche umgehen lassen. Es wäre ein trauriger Präzedenzfall, wenn der Versuch der Kommission gelingen sollte, den Deal als bloße Erklärung zu deuten, und ihn damit außer Reichweite des Parlaments und des EU- und Völkerrechts zu stellen.