Radioträume Mitte der achtziger Jahre

Radioträume Mitte der achtziger Jahre

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In den ersten Zeiten hatten wir als
Gegenüber eine einzige Zeitung in der Region und einen öffentlich-rechtlichen
Rundfunk. In beiden galt es als mutig, beispielsweise Atomkraft-Kritikerinnen
zu zitieren. Wir machten mit Radio Dreyeckland Gegenöffentlichkeit,
wir wussten einiges besser. Wir hatten nur zwei, drei Minuten, später
zwei bis drei Stunden. Wir wollten jede Sekunde ausnützen.
Später hatten wir viel mehr Zeit, sollten allerdings noch in
flagranti von der Polizei beim Radiomachen erwischt werden. Das Radiomachen
wollten wir trotzdem neu erfinden, nichts sollte so bleiben wie es
vorher war und wie es die privaten Sender den öffentlich-rechtlichen
gerade nachmachten.

Es sollte ein Radio sein für die,
die Träume aus dem Mund spucken, neue Worte erfinden, aus Zuständen
die Luft rauslassen, die ihre Bosse zur Verzweiflung bringen und die
prügelnden Ehemännern den Garaus machen. Es sollten keine
Regierungschefs, Generäle, eingebildete Professorinnen und Lehrer,
unterdrückerische Eltern, dumme Soldaten, untertäniges Volk,
schleimige Studentinnen und Schüler oder rechthaberische Kinder
das Sagen haben. Wir wollten darüber berichten, wenn Frauen und
Männer Militär aus dem Land jagen, wenn Kinder Noten abschaffen,
wenn Sterbende in Krankenhäusern die Macht übernehmen und
wenn auch nicht mehr ihr Leben so doch wenigstens ihre Würde
retten, wenn alte Häuser, Wälder, Tomaten, Adler und Meerschweinchen
vor dem Untergang bewahrt werden sollten.
Es sollten blaue Blumen, frisch gezimmerte Särge, Kolibris, Wasserpistolen
und Tigerfische genauso vorkommen wie das Paradies, die Hölle,
der siebte Himmel, das Tal, der Berg, die Sonne, der Regen und alles,
was dazwischen liegt.
Wir wollten für einen Arbeitslosen, der gerade von einem Spaziergang
zurück kommt, für eine Angestellte, die sich überlegt,
ob sie sich in einen Baum hängt, für den Arbeiter, der sich
ein Bier aus dem Kühlschrank holt, für Flüchtlinge,
die unsere Sprache nicht verstehen, für Jugendliche, die auf
dem Boden vor dem Radio sitzen und für Hausfrauen, die müde
ihre Schürzen aufhängen, Radio machen. Wir waren sie.
Wir wollten, dass uns Kommunisten, Anarchistinnen, Raucherinnen, Vegetarier,
Veganerinnen, Umweltschützer, Autofahrerinnen, Fernsehsüchtige,
Verdrossene, Lustige, Wütende zuhören. Wir waren auch sie.
Wir wollten klüger werden, uns zum Denken anstiften und uns auf
keinen Fall schonen. Und wir wollten uns dabei helfen, auf keine Reklame
mehr reinzufallen.

Und dabei konnte das bisherige Radio
nichts mehr nützen.
Wir haben alles Mögliche probiert, viel geredet genauso wie viel
geschwiegen, auf ganz verschiedene Arten informiert und Geschichten
erzählt. Wir haben davon geträumt, mehr Zeit zu haben, nicht
immer auf die Polizei aufpassen zu müssen und waren uns sicher,
dass das der Grund sei, warum wir nicht so richtig vom Fleck kamen.

Der Traum wurde wahr. Die Polizei blieb
weg. Wir hatten viel Zeit. Und dann haben wir überlegt, ob eine
Nachricht zwei Minuten lang oder revolutionäre fünf Minuten
lang sein soll. Wir haben in Workshops den Interessierten beigebracht,
wie man "Beiträge baut" und wir wollten auch nicht
mehr, dass so viel gestottert wird. In beinah jeder Sendung weiß
jemand etwas besser. Und ich hätte fast noch vergessen zu erwähnen,
dass wir immer noch davon reden, Gegenöffentlichkeit zu machen
und das, wo es gar keine bürgerliche Öffentlichkeit im alten
Sinne mehr gibt.

Ursi Aeschbacher

(aus: radio! - Mai 2002)