Gesellschaft in Auflösung: Rechnung offen - Inger-Maria Mahlke

Rechnung offen - Inger-Maria Mahlke

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Berlin Verlag

Lauter gestrandete Existenzen bevölkern das Mietshaus in Berlin-Neukölln. Drogendealende Afrikaner, eine demenzkranke alte Frau, eine psychisch Kranke mit ihrem Sohn, eine junge Frau, die ihren Eltern (den Hausbesitzern) ein Leben vorlügt. Inger-Maria Mahlke gibt all diesen Menschen Namen und Geschichten. Wir lernen sie gut kennen. Sie sich untereinander aber nicht. Seltsam beziehungslos und uninteressiert leben sie nebeneinander her.

Birgit Huber ist sehr beeindruckt von diesem Roman, aber die allumfassende Empathielosigkeit empfindet sie als überzeichnet:

Ein Mietshaus im aufstrebenden Berlin-Neukölln. Gründerzeit, gedrechselte Treppengeländer, heruntergekommen. Die Dönerbuden drum herum verwandeln sich gerade in Edelstahl-glänzende Hipster-Cafés. Es gibt aber auch noch die Eckkneipe, in der das ganze Jahr die Sylvestergirlande hängt. Auch in unser Mietshaus sind die Hipster noch nicht vorgedrungen, hier lebt eine lose Ansammlung prekärer Existenzen. Und mit prekär meine ich nicht nur die finanziell unsicheren Lebensbedingungen. Die Bewohner des Hauses, die Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman „Rechnung offen“ präsentiert, sind vor allem vereinzelt, überfordert, gezeichnet von Lebensgeschichten. Sie verorten sich nicht in der Gesellschaft, sondern erleben sie als feindlich. Es sind randständige Existenzen und gleichzeitig Leute wie du und ich und das ist durchaus beunruhigend. Da ist zum Beispiel Manuela, mit ihrem Sohn Lukas aus dem 2. Stock. Psychiatrieerfahren, aber jetzt geht es ihr besser – so wird sie anfangs vorgestellt. Den 9-jährigen Lukas vernachlässigt sie in unerträglich liebloser Art. Der widerum schlägt sich auf eigene Weise durch und der Unterschied ist nicht so groß, als seine Mutter ihn schließlich ganz verlässt. Unter den Hausbewohnern und Bewohnerinnen, die alle auf eine kindliche Art bedürftig sind, übernimmt Lukas noch am meisten Selbstverantwortung. Auch wenn er mit Aliens zu kämpfen hat. Es ist nicht so, dass seine Verlassenheit im Haus nicht bemerkt wird. Aber beachtet wird sie nicht. Unter ihm wohnt die alte Elsa Streml. Die wohnt schon immer da, ihre Demenz lässt die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart unscharf werden. Oft klingelt sie nebenan um ihre Freundin Erika zu besuchen. Erika ist tot, sagt ihre Nachbarin dann und schließt die Tür. Trotzdem ist die Beziehung zwischen Elsa und Erika die einzig echte und innige, die uns in diesem Buch begegnet Besucht wird Elsa von dem jungen Filmcutter Nicolai, der sich als ihr Enkel ausgibt. Oder gibt es da tatsächlich eine Beziehung? Eines der Geheimnisse in diesem Mietshausroman. Nicolai selbst befindet sich auf einem privaten Rachefeldzug gegen seinen Stiefvater, der ihm aus seiner ungebrochen kindlichen Perspektive die Mutter weggenommen hat. Diese offene Rechnung ist nicht die einzige Namensgeberin des Romans. Inger-Maria Mahlke zeigt uns Menschen, die sich allesamt als zu kurz gekommen sehen, die keine Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen sondern in einer unverbindlicher werdenden Welt um ihr eigenes verletztes Selbst kreisen und sich rächen und zwar egal an wem. Das hört sich nun alles sehr unerfreulich an, ist es auch, aber Inger-Maria Mahlke hat durchaus auch sarkastischen Witz auf Lager, gerade so allerdings, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Globalisierung findet im Haus durch die Bewohner des Erdgeschosses statt. Drogendealende Geflüchtete. Die über ihnen wohnende Tochter des Hausbesitzers erpresst sie mit der Drohung, ihre Existenz ihrem Vater zu melden und lässt sich in Naturalien ausbezahlen. Trotzdem sind die Dealer quasi ihr menschlichster Kontakt. Ansonsten beobachtet sie obsessiv Nicolai, den falschen Enkel von Elsa Streml. Ihr Vater der Hausbesitzer wohnt seit kurzem auch im Haus. Kaufsüchtiger Psychotherapeut. Rasanter Abstieg. Auch ein armer Tropf aber der lächerlichste und rücksichtsloseste von allen, der sich schließlich an seiner Rücksichtslosigkeit gesund stößt, kurzfristig zumindest. Inger-Maria Mahlke lässt uns in diesem Mikrokosmos Mietshaus tief in die Abgründe des Lebens blicken in einer Welt, die keine Sicherheiten mehr zu bieten scheint. Mit sensibler Genauigkeit lotet sie auch die Zwischenräume aus und entwirft Menschen mit Geschichte und Gegenwart, weitab aller Klischees. Brillant geschrieben. Die Art allerdings, in der sie jede menschlich selbstlose Regung ins Leere laufen lässt, entwirft ein Gesellschaftsbild, an das ich nicht glaube. Obwohl ich die Tendenzen klar erkenne, ist komplette Empathielosigkeit für mich ein Krankheitsbild und nicht die Normalität in Berlin – Neukölln oder anderswo. Inger-Maria Mahlke ist 1977 geboren, schreibt hochgelobte Romane, sie arbeitet aber auch am Lehrstuhl für Kriminologie an der FU Berlin. Vielleicht kommt man dort zu so einer Weltsicht. Wie dem auch sei: Überzeichnung fällt unter dichterische Freiheit und der Spiegel, den uns Inger-Maria Mahlke vorhält ist alarmierend. Es lohnt sich, das Buch zu lesen. Es heißt: Rechnung offen, erschienen 2013 im Berlin-Verlag. 285 Seiten, 10 Euro.