Neun Kurzgeschichten versammelt der amerikanische Autor George Saunders in seinem Erzählband „Tag der Befreiung“. Der Buchtitel klingt hoffnungsvoll, die Stories erzählen andere Geschichten. Saunders beobachtet genau, fühlt sich in seine Protagonist*innen ein und entdeckt dabei die Bereitschaft von Menschen sich gesellschaftliche Bedingungen anzupassen, seien diese auch noch so absurd. Da schwingt nicht viel Hoffnung mit in Zeiten des Trumpismus. Saunders Erzählungen sind also ziemlich düster und pessimistisch, Rezensent findet es trotzdem absolut lohnend, sie zu lesen:
Sie hängen zu dritt nebeneinander in unterschiedlicher Höhe an der Verkündigungswand im Hause der Untermeiers. Jeremy, Craig und Lauren werden künstlich ernährt und sollen abends einer Gesellschaft von geladenen Gästen künden. Das ist das Szenario der Titel gebenden Storie „Tag der Befreiung“ in George Saunders Erzählband.
Das ist eine mehr als deutliche Anspielung auf die biblische Kreuzigungsszene, in einer sozusagen digitalen Variante. Jeremy eines der Opfer und gleichzeitig der Ich-Erzähler dieser Story wird im Lauf der Geschichte seine Chance zur Befreiung erhalten, aber er wird sie nicht nutzen.
Darum geht es in einigen der Stories: Menschen entscheiden sich allzu oft dafür ihr Elend zu ertragen, weil alles andere Mut, Anstrengung und Risiko bedeuten würde. So fordert schon in der ersten Erzählung ein Vater seinen Sohn dazu auf, sich nicht für seine festgenommene Freundin einzusetzen, weil sonst das autoritäre Regime auch den Sohn ins Visier nehmen könnte. In der Geschichte Ghul bilden Menschen einen Kreis um vermeintliche Sünder um diese dann wegen geringster Vergehen zu Tode zu treten. Denunziation ist dort Pflicht und Selbstschutz. Aber es ist nicht nur die autoritäre Macht der Regime, die die Menschen versklavt und zurichtet, Saunders zeigt auch, wie die Strukturen der kapitalistischen Arbeit Kolleginnen zu Konkurrentinnen und Denunziantinnen werden lässt, wie gegen Schwächere gehackt und dann nach oben gebuckelt wird. In der Storie “Muttertag“ wird der Sohn einer bildungsbürgerlichen Familie von einem Obdachlosen geschubst, was sofort übelste Ressentiments auslöst, schließlich zur Selbstjustiz an einem Unschuldigen führt, um dann in tiefstem Selbstmitleid zu enden.
George Saunders ist ein großer Meister darin aufzuzeigen, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Innenleben seines Personals spiegeln. Ich glaube schon, dass er die Stories vor dem Hintergrund der heutigen amerikanischen Gesellschaft geschrieben hat. Dies schafft er ohne Amerika geschweige denn Trump auch nur zu erwähnen. „Tag der Befreiung“ ist schon vor zwei Jahren in den USA erschienen. 2020 hat Saunders in einer Late Night Show gesagt:
"Vor der Wahl 2020 fühlte ich mich einfach aufgewühlt und sauer. Und vor allem war mein Gefühl: Werden wir es wirklich ruinieren, dieses schöne Land, das wir auf einem gemeinsamen Konsens aufgebaut haben? Werden wir wirklich zulassen, dass etwas so Dummes und Lächerliches - jemand so Dummes und Lächerliches! - es zerstört?" Zitat Ende
Das Dumme und Lächerliche, der Dumme und Lächerliche ist fulminant zurückgekehrt. Wenn man George Saunders liest, erfährt man fast nichts über politische Ereignisse oder Positionen. Dafür blickt er tief in die Gemütslage seiner Figuren beschreibt deren kleine Gemeinheiten und Intrigen, deren gehässigen Gedanken, deren Opportunismus und deren Kampf um den persönlichen Vorteil. Das alles schreibt er mit einem Einfühlungsvermögen, das einen manchmal schaudern lässt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil einem viele dieser menschlichen Abgründe allzu vertraut vorkommen. Obwohl man seine Figuren innerlich verurteilt, empfindet man manchmal geradezu widerwillig Verständnis für sie. Oft hatten sie vorher ein anderes Leben, an das sie sich nicht mehr erinnern können oder an das sie sich nicht mehr erinnern wollen. Wenn Saunders seine Protagonist*innen dann noch in ein Bedrohungsszenario setzt um deren moralische Werte und Überzeugungen auf die Probe zu stellen, dann schlägt die bürgerliche Anständigkeit in vielen seiner Stories in Hass und Gewalt um. Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen, ob das nicht genau die Basis ist, auf der die Rückkehr des Dummen und Lächerlichen möglich wurde?
Auch deshalb ist lohnend und lehrreich Saunders zu lesen, und hinzu kommt noch, dass er hervorragend schreibt.