Die Filmfestspiele in Cannes sind vor einer guten Woche zu Ende gegangen. Naturgemäß habe ich es nicht geschafft, alle 22 Wettbewerbsbeiträge oder auch nur annähernd die Hälfte der Filme im Certain Regard zu schauen. Aber von den Wettbewerbsfilmen habe ich immerhin 12 gesehen und, was bemerkenswert ist, bis auf einen waren sämtliche Preisträger dabei.
Hier zunächst eine Übersicht der prämierten Filme bzw. Darsteller/innen:
- Preis der Jury: The Angel's Share von Ken Loach
Dieser Preis zeichnet laut Reglement einen Film aus, der besonders von der Jury geschätzt wird. - Bester männlicher Hauptdarsteller: Mads Mikkelsen in Jagten (von Thomas Vinterberg)
- Beste weibliche Hauptdarstellerin: Cosmina Stratan und Cristina Flutur in Dupã Dealuri (Beyond the hills)
Dieser Preis ging zu gleichen Teilen an die beiden Hauptdarstellerinnen aus Cristian Mungius extrem sehenswerten (wenn auch sehr langem) Drama. (Cristian Mungiu wurde im übrigen 2007 für seinen Film Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnet.) - Bestes Drehbuch: Cristian Mungiu für Dupã Dealuri (Beyond the hills)
- Beste Regie: Carlos Reygadas für Post tenebras lux
- Grand Prix: Matteo Garrone für Reality
Der Grand Prix geht an den originellsten Wettbewerbsfilm beziehungsweise jenen, der den größten Forschergeist aufweist. Ursprünglich hatte der Grand Prix denselben "Wert" wie die Goldene Palme und zeichnete des besten Film in der Kategorie «art et essai» aus (während mit der Goldenen Palme Filme ausgezeichnet wurden, die eher einem Massenpublikum zugedacht waren). Doch konsequent umgesetzt wurde diese Unterscheidung nie und heute gilt der Grand Prix definitiv als weniger wichtig als die Goldene Palme. - Goldene Palme (bester Film): Amour (Liebe) von Michael Haneke
Interessant ist noch, daß sowohl der Regiepreis als auch der Grand Prix und die Goldene Palme nicht (mehr) mit weiteren Auszeichnungen kombiniert werden dürfen (in der Vergangenheit war dies möglich). Daher wurde Haneke in diesem Jahr auch "nur" mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, dies aber explizit auch und gerade wegen der schauspielerischen Leistung seiner beiden Hauptdarsteller. Nanni Moretti gab in der der Preisverleihung folgenden Pressekonferenz dann auch unumwunden zu, daß er ohne ensprechendes Reglement den Hauptdarstellern von Amour auch die Darstellerpreise zuerkannt hätte.
Bis auf Reality habe ich alle der ausgezeichneten Filme gesehen und bin weitestgehend einverstanden mit der Verteilung der Preise. Ob Amour wirklich der beste Film ist, darüber läßt sich sicher streiten, da aber der Wettbewerb in diesem Jahr in meinen Augen insgesamt recht schwach war, ist der Preis sicherlich zu rechtfertigen. Mir persönlich würde jedenfalls auch kein anderer Kandidat einfallen, dem ich die Auszeichnung stattdessen zugestanden hätte. Am besten nachvollziehen kann ich aber auf jeden Fall die Entscheidung, den "Preis der Jury" an The Angels's Share von Ken Loach zu geben. Auch wenn man anmerken könnte, daß Ken Loach wohl etwas altersmild geworden ist, ist sein neuestes Werk ein wunderbar charmanter Film, der beim Publikum extrem gut angekommen ist (es gab stellenweise sogar Szenenapplaus) und einfach Spaß macht. Dennoch darf natürlich ein klein wenig Sozialkritik bei Loach nicht fehlen. Die ist diesmal aber so charmant verpackt, daß man das Kino trotzdem mit einem guten Gefühl verläßt. Daß dieser Film der Jury besonders gut gefallen hat, ist daher für mich absolut nachvollziehbar.
Auch der Preis an die beiden Hauptdarstellerinnen aus Mungius religionskritischem Drama ist gerechtfertigt. Die beiden jungen Frauen sind großartig und verkörpern ihre Rollen mit einer Intensität, die Gänsehaut hervorruft. Diesen Preis an Emmanuelle Riva für ihre Rolle in Amour zu geben (ich fand sie fast noch besser als Jean-Louis Trintignant, der ihren Ehemann verkörperte), hätte sicher auch überall Anklang gefunden, so aber bleibt die Hoffnung, daß Mungius Film durch die Auszeichnung eher den Weg in die internationalen Kinos schafft und es den jungen Schauspielerinnen den Start in eine Karriere erleichtert.
(AP)