Für eine Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands fordert der türkische Präsident Tayyip Erdogan u. a. die Auslieferung von 40 Personen aus Schweden und Finnland. Darunter befindet sich auch der 74-jährige Verleger Ragip Zarakolu.
Wenn man einen Menschen als das Gewissen der Türkei bezeichnen kann, dann ist es Ragip Zarakolu. Geboren wurde Ragip Zarakolu auf der Insel Büyükada bei Istanbul, wo er früh Kontakt zur griechischen und armenischen Minderheit fand. Die kosmopolitische Atmosphäre des damaligen Büyükada hat ihn ebenso geprägt wie der Aufschwung der Linken in der Türkei in den 60-ger und 70-ger Jahren. Er schrieb zahllose Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und gründete mit seiner ersten Frau Aysenur Zarakolu 1977 den Belge Verlag. Der Name bedeutet "Dokument". Wichtige politische Schriften verlegte das Paar ebenso wie Belletristik. Belge war der erste Verlag, der es in der Türkei wagte, ein Buch zum Völkermord an der armenischen Minderheit im 1. Weltkrieg herauszubringen. Weitere folgten, darunter eine Übersetzung von Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dag", über den Widerstand gegen den Völkermord. Aber auch die griechische, jüdische und insbesondere kurdische Minderheit waren immer wieder Thema. Wie gefährlich die Zeiten auch sein mochten, Aysenur und Ragip saßen in einem Keller in Istanbul zwischen Blauer Moschee und Universität zwischen Stapeln von Büchern über heiße Themen, die sie verlegten, egal was ihnen dafür drohte. Doch auch immer in der Angst, dass wieder "die Gespenster" der Repression an ihre Türe klopfen. Nach Aysenurs Tod 2002 führte Ragip den Verlag alleine weiter.
Die Repression blieb nicht aus. Nach den Militärputschen von 1971 und 1980 saß Ragip mehrmals für einige Zeit im Gefängnis. Bücher wurden verboten und beschlagnahmt. Mit Erdogan wurde es nicht besser, die Verfahren häuften sich immer mehr und Ragip kam auch wieder in Haft. Vor einer längeren Haftstrafe bewahrte ihn vielleicht vorläufig der Umstand, dass er von Mitgliedern des schwedischen Parlaments für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Neben Ragip traf die Repression auch seine politisch ebenfalls aktive Kleinfamilie. Als Aysenur starb war gerade das 34. Verfahren gegen sie eröffnet worden. Einer der beiden Söhne wurde von einem Rechtsradikalen mit einem Schwert am Kopf verletzt. Schließlich emigrierte Ragip Zarakolu doch nach Schweden, wo das oberste Gericht seine Auslieferung ablehnte. Dergleichen Probleme lassen die türkische Regierung allerdings unberührt. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu schlug Schweden und Finnland vor, doch einfach ihre Gesetze zu ändern, falls es mit der Auslieferung nicht klappt. Immerhin ging er nicht so weit vorzuschlagen, nach türkischem Vorbild einfach die Richter auszuwechseln oder selbst mit Verfahren zu überziehen.
Ragip Zarakolu steht für viele verschiedene Dinge, doch dass sich Erdogan jetzt gerade auf den bejahrten Verleger konzentriert dürfte den selben Grund haben wie offensichtlich die erschwerte lebenslange Haftstrafe für den Mäzen Osman Kavala. Es darf niemand am nationalistischen Türkenbild kritteln und die Geschichte schreibt die jeweilige Regierung. Erdogan und Putin haben auch da viel gemeinsam.
jk