Affäre Steinmeier: Irritierend

Irritierend

Deutschland überweist Russland täglich im Schnitt 80 Mio. Euro für Energie, Energieprodukte und Metalle.* Tendenz aufgrund höherer Preise vermutlich steigend. Nicht einmal kleinste Maßnahmen zur Senkung dieser Summe wie ein Tempolimit gelten als den Deutschen zumutbar. Der Ausstieg aus der russischen Kohle soll erst in vier Monaten wirksam werden. Jeden Tag sterben in der Ukraine zahlreiche Menschen, werden verkrüppelt, verlieren Angehörige und Freunde, müssen aus bis zur Unkenntlichkeit zerbombten Städten fliehen. Soldaten morden, plündern, vergewaltigen, so wie es ihr Chef der ganzen Ukraine bildlich angedroht hat.

Die ukrainische Regierung hat den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, als er sich dem Besuch anderer Staatschefs, die mehr für die Ukraine tun, anschließen wollte, kurzerhand ausgeladen. Wer genau und ob, ist strittig, aber man kann Steinmeier glauben, dass es eine Art Ausladung gab.

Bundeskanzler Scholz (SPD) findet das im Understatement der harschen Kritik „irritierend“. Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat Verständnis wo er nichts versteht: „Bei allem Verständnis für die existenzielle Bedrohung durch den russischen Einmarsch erwarte ich, dass sich ukrainische Repräsentanten an ein Mindestmaß diplomatischer Gepflogenheiten halten und sich nicht ungebührlich in die Innenpolitik unseres Landes einmischen.“ Steht in der Bildzeitung, wo es auch hingehört. Und so sind die deutschen Medien pikiert, bis hin zu Alice Schwarzer in der Emma.

 

Sehen wir uns die deutsche Politik gegenüber der Ukraine und speziell die Rolle Steinmeiers darin mal von der ukrainischen Seite aus an, das heißt unabhängig von allen deutschen Rechtfertigungen, auch wenn manche diskutabel sind.

1999-2005: Steinmeier ist Chef des Kanzleramts unter Putin-Freund Schröder. In diese Zeit fallen die Entscheidungen für die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Laut Moscow Times  vom 1. Juli 2000 sagt der Vorstandsvorsitzende von Gazprom, Rem Wjachirew explizit: „Ich werde die Pipeline zur Umgehung der Ukraine fertig stellen, noch während ich lebe.“

In der ersten Groko 2005-2009 wird Steinmeier Außenminister. In diese Zeit fällt, wenn auch Kanzlerin Merkel mindestens genauso zuzurechnen, die Entscheidung, die Ukraine und Georgien in absehbarer Zukunft nicht in die NATO aufzunehmen. Dieser wohl vor allem auf Drängen Deutschlands und Frankreichs zustande gekommene Kompromiss erweist sich als die schlimmstmögliche Wendung für die Ukraine. Man kann es den Ukrainer*innen nicht verdenken, dass sie nun denken, „hätte man uns damals aufgenommen, würden wir nun nicht angegriffen“. Gleichzeitig bedeutete die völlig abstrakte Zusage, der Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft irgendwann, dass Putin das Argument behielt, eine potentielle Nato-Mitgliedschaft der Ukraine bedrohe Russland.

2013 bis 2017 ist Steinmeier erneut deutscher Außenminister. Im Herbst 2013 verkündet der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch, während er sich bei Putin befindet und unter der Androhung von ökonomischem Druck, die Aussetzung der Ratifizierung des Assoziierungsabkommens mit der EU. Dies führt zu Protesten und Repression, die ihrerseits die Proteste nur verstärkt. Janukowytsch tritt vor einem Misstrauensvotum zurück und zieht sich nach Russland zurück. Russland nutzt das Chaos, besetzt und annektiert die Krim und facht eine bewaffnete Rebellion im Donbass an. Dabei werden offensichtlich auch russische Truppen eingesetzt und Russen übernehmen Funktionen in den ausgerufenen „Volksrepubliken“. Es gibt die erste große Flüchtlingswelle aus dem Donbass.

Steinmeier sieht den Fehler mindestens ebenso sehr beim Westen. Man hätte Russland einbeziehen müssen. Wie das bei einem Assoziierungsabkommen mit der EU praktisch gehen soll, bleibt sein Geheimnis. Deutschland trägt Sanktionen wegen der Annexion der Krim mit, obwohl aus der SPD immer mal wieder Murren kommt.

Um den Krieg im Osten der Ukraine zu beenden, zwingen Deutschland und Frankreich die Ukraine zu Zugeständnissen, die im Minsk II Abkommen kulminieren. Der Krieg geht aber auf kleinerer Flamme weiter, wobei sich beide Seiten wechselseitig die Schuld geben. Ebenso werfen sich beide Seiten gegenseitig vor, das Minsk II Abkommen nicht umzusetzen. Die Ukraine weigerte sich zuletzt sogar explizit, das Abkommen umzusetzen. Dieses sei ihr praktisch mit vorgehaltener Pistole aufgezwungen worden. Das geht zum Teil wieder an die Adresse Steinmeiers. Russland ist mittlerweile ebenfalls von dem Abkommen abgerückt.

Angesichts des russischen Aufmarsches an der Grenze der Ukraine bat die Ukraine auch Deutschland um Waffen zu ihrer Verteidigung gegen die militärisch weit überlegene Russische Föderation. Deutschland weigert sich strickt Waffen zu liefern und hindert andere Staaten ebenfalls daran Waffen, die noch aus DDR-Beständen stammen, der Ukraine zu überlassen. Die deutsche Begründung, man tue das wegen der historischen Schuld Deutschlands im 2. Weltkrieg, sorgt in Kiew für Fassungslosigkeit. War nicht die Ukraine der Teil der Sowjetunion, der am meisten unter dem von Deutschland begonnenen Krieg gelitten hat?

Drei Tage nach Beginn des Angriffskrieges ändert Deutschland seine Haltung zu Waffenlieferungen. Die Lieferungen bleiben aber hinter denen des kleinen Estlands in der Summe weit zurück. Schwere Waffen, deren Lieferung sich die Slowakei durchaus traut, scheinen weiter grundsätzlich ausgenommen. Russland muss niemanden um Waffen bitten. Bei Sanktionen bremst Deutschland, manchmal sogar im Alleingang. Dafür ruft Scholz regelmäßig bei Putin an.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj darf per Videoschalte im Bundestag sprechen. Danach wird brav geklatscht, Katrin Göring-Eckardt verliest Geburtstagsglückwünsche und dann wird übers Impfen gesprochen. Könnte man einen Affront nennen. Vielleicht hat man in Kiew mittlerweile mit Deutschland und Steinmeier einfach die Geduld verloren?

Deutschland überweist Russland täglich im Schnitt 80 Mio. Euro.

Irritierend.

jk

* Die Summe ist aus den Angaben für das Jahr 2021 berechnet. Nicht berücksichtigt werden konnten die stark gestiegenen Preise, die aber auch Schwankungen unterliegen. Andererseits gibt es Änderungen bei den Mengen, wohl insbesondere weil Firmen aus Angst, darauf sitzen zu bleiben oder wegen öffentlichen Drucks kein russisches Öl mehr kaufen. Über den Daumen gepeilt dürfte aber der Preiseffekt größer sein. Schon aufgrund des Aufmarsches haben russische Energielieferanten Rekordgewinne eingestrichen.