Für den medizinischen Fortschritt: Pest und Cholera - Patrick Deville

Pest und Cholera - Patrick Deville

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Patrick Deville erzählt vom dem Leben des Schweizer Bakteriologen Alexandre Yersin, der 1891 das Labor Louise Pasteurs verlässt, um nach einer abenteuerlichen Selbstfindungsphase auf seiner Reise durch Asien als Schiffs- und Armenarzt, Pflanzen- und Tierzüchter, Architekt, Geograf und Meteorologe schließlich den Pestbazillus isoliert und den ersten Impfstoff gegen den fortan Yersinia Pestis genannten Erreger entwickelt. Monika Hoffmann hat den Roman mit großem Genuss gelesen:

Nur Medizinern ist der Name ein Begriff. Yersinia Pestis. Die Mikrobe, die ihren Ruhm dem Entdecker des Pestbazillus, Alexandre Yersin verdankt. Alexandre Yersin wird 1863 in der Nähe von Genf geboren, studiert Medizin und findet bald Aufnahme in den erlesenen Kreis um Luise Pasteur in Paris. Es ist das große Los für den Anfang 2o Jährigen, hier in der Hochzeit der Bakteriologie forschen zu dürfen. Zunächst von der Aufbruchsstimmung der Medizinwissenschaften fasziniert verlässt Yersin nach nur zwei Jahren das Institut. Gelangweilt. Er möchte kein Fleißarbeiter am Mikroskop sein. Es zieht ihn in die Ferne, er will die Welt entdecken, wie Livingstone und viele andere Forscher, die sich im Gefolge der Kolonisierung fremder Länder auf den Weg machen. Ein Handelsschiff bringt ihn in die neu gegründete Stadt Saigon, wo er sich auf der französischen Linie Saigon-Hanoi als Schiffsarzt verdingt. Auch hier hält es ihn nicht lange. Immer häufiger verlässt er die seekranken Passagiere und fährt mit einem Kutter von den Flussmündungen aus dorthin, wo die Atlanten weiße Flecken aufweisen. Er beschreibt, vermisst und kartographiert seine Erkundungen und entzieht sich gleichzeitig als Armenarzt der Ökonomie.

Auf einer dieser Expeditionen entdeckt der Forschungsreisende den Küstenort Nha Trang. Hier wird Yersin sein Utopia erschaffen. Einen eigenen kleinen Kosmos - abgeschirmt vom Schmutz der Welt, von Viren, Politik und Krieg, auferstanden aus den Errungenschaften von Wissenschaft und Technik zum Wohle der Menschheit. Wie in einem Strategiespiel plant, baut, züchtet und erforscht Yersin alles, was ihm für die Entwicklung wichtig erscheint. Es gelingt ihm Himbeeren und Orchideen heimisch zu machen, er züchtet robuste Hühner, vertieft sich in den Straßenbau ebenso wie in die Meteorologie um das Wetter vorhersagen zu können, pflanzt den Chinarindenbaum für die Gewinnung von Chinin, mit der er Malaria behandelt und bildet Jungs aus dem Dorf als Ärzte und Laboranten aus. Der Ort bleibt sein Stützpunkt bis zu seinem Tode 1943. Immer wieder aber verlässt er Nha Trang - bekniet von den Jüngern des Instituts Pasteurs, wenn dringliche Hilfe von Nöten ist.

So eilt er 1894 nach dem Ausbruch der Pest in Hongkong zu Hilfe. An einer gestohlenen Leiche gelingt es ihm hier die Pestbakterie zu isolieren. Mission Acomplished denkt Yersin wohl und widmet sich wieder dem Aufbau seines Paradieses in Nha Trang. Doch im Pariser Institut, an das er seine Bakterienproben weitergegeben hat, weiß man mit der Entdeckung nichts anzufangen und Yersin muss erneut ins Labor. In wenigen Wochen entwickelt er Impfstoff und Antiserum aus seinen halb verhungerten Bakterien und testet sie zunächst an Pferden, bis er illegal und unter Verschwiegenheit einen todgeweihten Chinesen heilt. Damit schließt Yersin für sich das Kapitel Pest, ohne auf Ruhm und Ehre zu warten, nicht einmal die Patentierung kommt ihm in den Sinn. Denn endlich ist wieder Zeit für Nha Trang und den Aufbau der neuen Welt des Fortschritts. Nur gelegentlich wird er noch aufgestört von eiligen Missionen des Instituts Pasteur. Eine davon führt ihn nach Madagaskar, wo er das Schwarzwasserfieber untersuchen soll.

ZITAT

„Von nun an wird Yersin sich auf allen seinen Reisen der Reihe nach immer von einem anderen Mitarbeiter aus der kleinen Gruppe begleiten lassen, die er seine annamitischen Diener nennt, der kleinen Bande von Yersin, den Fischersöhnen, die er zu Laborgehilfen, aber auch zu Mechanikern für die Maschinen und bald auch für die Autos ausgebildet hat. Er ist überzeugt, dass er sich umsonst herbemüht hat, aber er fügt sich dem Auftrag, reist ein wenig durch das Land, entnimmt Proben, bereitet das Mikroskop und die Spritzen vor, studiert die Vegetation und die Baumzucht, entdeckt einzigartige Bäume und wohlschmeckende Früchte. Zum ersten Mal bekommt er einen Kautschukbaum zu Gesicht. Yersin rollt die klebrige Kugel aus Latex zwischen seinen Handflächen, sticht mit dem Finger durch, zieht sie auseinander und formt daraus eine Krone: ein Reifen für sein Peugeot-Fahrrad. Er bewundert den Einfallsreichtum und das Genie des Reifenerfinders. Er ahnt, dass der Name Dunlop besser im Gedächtnis haften bleiben wird als der Namen des Mannes, der den Pestbazillus entdeckt hat. Denn die Pest wird verschwinden, Reifen aber wird es immer geben. Allerdings kann er kaum geahnt haben, dass ein Jahrhundert später bereifte Fahrzeuge, Fahrräder, dann Autos, Motorräder, Lastwagen und schließlich Flugzeuge genauso viele gewaltsame Tode kosten werden wie der große schwarze Schrecken.“

ZITATENDE

Soweit im Groben die Rahmenhandlung dieses fesselnden Medizin- und Wissenschaftskrimis über den rastlosen Universalgelehrten, dessen Wissensdurst vor nichts Halt macht. Elektriker, Automechaniker, Pflanzenkundler, Fotograf, Vermesser, Tierzüchter, Botaniker, Geograf, Meteorologe, Tiefbauingenieur und dabei immer Autodidakt, Genie, Lebenskünstler und Glückspilz.

Erzählt wird die Geschichte Yersins von dem kongenialen Patrick Devilles, der als „Gespenst aus der Zukunft“, durch den Roman geistert - Seinem Zielobjekt auf den Fersen, ihm durch die Wände folgt, ihn auf den Reisen vom schweizerischen Waadtland über Paris bis Indochina begleitet. „Er muss immer alles wissen, dieser Yersin“ schreibt das Gespenst Deville. Als Erzähler mischt sich das Gespenst aus der Zukunft immer wieder ein mit politischen Kommentaren oder ironischen Seitenhieben und beschwert sich auch mal über die Detailversessenheit Yersins. Er schreibt in der dritten Person, ohne allwissend zu sein: das überlässt er Yersin.

Immer aber behält der Autor Deville wie ein Dirigent die Hoheit über die Komposition dieser Zeit- und Lebensgeschichte. Die entwickelt sich nicht chronologisch sondern ebenso sprunghaft, wie das Leben Yersins selbst. Patrick Deville destilliert seinen Roman aus dem vollständig erhaltenen Briefwechsel Yersins und aus hunderten von Notizbüchern. Jahreszahlen finden sich in dem Roman selten, dafür aber epochale, politische und kulturhistorische Querbezüge, die den Leser*innen einigen Forschergeist abverlangen aber die eigentliche Geschichte neben der Biographie erzählen. Denn Yersin selbst bleibt immer fokussiert auf seine jeweilige Obsession. So konstatiert das Gespenst aus der Zukunft: (Zitat) „Hinter ihm bewegt sich die Welt. Sie interessiert ihn nicht. Er bildet sich ein, er könne den ganzen Dreck von Geschichte und Politik für immer von sich fernhalten“ (Zitatende). Deville stellt diese Bezüge her, zur Kongokonferenz, zur Dreyfus-Affaire, zum ersten Weltkrieg, dem Wettlauf der Großmächte in den Kolonien, von der schwarzen Pest zur braunen Pest bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs.

Die auf nur 240 Seiten komprimierte Geschichte ist ungeheuer voraussetzungsvoll aber dank des hohen Spannungsbogens auch lesbar, ohne dass man zwingend dem Impuls folgen muss immer wieder Wikipedia oder andere Wissensquellen zu konsultieren. Aber: es weckt die Neugier und macht Spaß, sich genauer in die Einzelheiten zu vertiefen.

Ein genialer Roman über einen genialen Geist.