Timur Abramovich. Der Austausch.: Radio Oida (deutsch) 21.11.2019

Radio Oida (deutsch) 21.11.2019

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Timur Abramovich

Der Austausch.

Es gibt Situationen wo das Biographische und das Politische nicht mehr zu trennen sind, egal, wie stark man sich auch wünscht, seine persönlichen Erfahrungen und Eindrücke von allgemein bekannten und ideologisch umstrittenen zu unterscheiden. Irgendwann vor vielen Jahren habe ich einen damals viel versprechenden jungen deutschen Slavisten kennen gelernt, nennen wir ihn J. Wir haben uns schnell angefreundet, obwohl wir uns eigentlich nicht sehr häufig trafen. Ich war fasziniert von seinem etwas skurrilen, aber grammatikalisch nahezu perfekten Russisch, von seinen Reiseerfahrungen in Osteuropa und in Indien, von seinem großen Potenzial, das Leben außerhalb des Mainstreams zu gestalten, und von dem Mut, der dazu gehört. Ich erinnere mich, wie ich ihn mal in Berlin besucht habe, im Winter. In der winzigen Wohnung,  die er für ein paar Monate im letzten Stock eines düsteren Hauses gemietet hatte, gab es keine vernünftige Heizung, wir haben einen großen Topf Wasser zum Kochen gebracht und standen neben dem Herd, uns von dem Dampf wärmend, und philosophierten. Später habe ich J aus den Augen verloren, war mir aber sicher, dass wir noch von einander hören würden, früher oder später. Und tatsächlich, nach vielen Jahren bekomme ich plötzlich eine Mail von ihm, als Reaktion auf einen meiner Artikel. Nach ein paar Messages hin und her hat sich rausgestellt, dass er jetzt glücklich verheiratet ist und seit einigen Jahren in Russland lebt, und zwar in einem kleinen mir vollkommen unbekannten Städtchen. Und er unterrichtet „Geopolitik“. So froh ich auch war, J wieder zu finden, hat das Wort mich etwas alarmiert. Ich habe vorsichtig nachgehakt und bald zur meiner Enttäuschung festgestellt, dass J seine „Geopolitik“ ganz ernst nimmt, sich als einen Experten auf diesem Feld versteht und seine Kursunterlagen als eine Mischung aus AfD-Parolen und tiefen Gedanken über die „nationalen Interessen“ Russlands (natürlich als Gegenteil zu den Interessen des bösen Westens) gestaltet. Als Anhang dazu habe ich ein paar Fotos bekommen, auf denen J in seinem von Schnee bis zum Dach bedeckten Holzhaus sitzt und Tee trinkt. Von diesen Entdeckungen erstaunt, griff ich zu google maps. Das Städtchen existiert, ca. 150 Kilometer nordöstlich von Moskau. Ich machte die Augen zu und versuchte mir das alles richtig vorzustellen: Moskau wie ich es kenne, mit seinen Menschenmengen und Autostaus, dann verschneite Autobahnen um die Stadt herum, dann luxuriöse Datschas von Superreichen, dann Wälder, tief und dunkel im Winterschlaf, dann das wie eine bunte Torte aussehende Zagorsk, die Hochburg der orthodoxen Kirche (dessen Oberhaupt Kirill bekanntlich mal zu Putin gesagt hat: „Als Geistlicher kann ich nicht lügen, ich sage Ihnen ganz ernsthaft: Sie sind einfach ein Genie!“), dann wieder Wälder voller Füchse und Bären, und dann tief im ländlichen Russland in seinem Holzhaus am Rande von Nirgendwo der alte gute J. Neben der Adresse von J und einem Rathaus gab es in dem Städtchen nur ein für google maps nennenswertes Gebäude, die Polizeischule für die Sondereinheit OMON, die immer bei Massendemonstrationen eingesetzt wird. Unterrichtet J etwa da seine „Geopolitik“? Ich habe nicht nachgefragt.

Auf meiner Suche nach passender Literatur, um mit J und ähnlich gesinnten zu diskutieren, bin ich mal auf ein empfehlenswertes Buch gestoßen: „Der neue Untertan. Populismus, Postmoderne, Putin“. Da ich mich nie in meinem Leben für ehemalige Schulkameraden interessiert habe, erst halbwegs durch dieses spannende und ideenreiche Buch, habe ich verstanden, dass der Autor vielleicht der B sein konnte, den ich mal ganz kurz in der Schule kennen gelernt habe. Es hat sich bestätigt. Ja, er ist der gleiche B, wir waren in verschiedenen Klassen und nur ein bisschen bekannt, haben uns aber zu Hause bei unserem Geschichtslehrer Alexei Venediktov getroffen (der viel später zum Chef des bekannten oppositionellen Radios geworden ist). Damals, in der Sowjetunion, lange vor jedem Anzeichen auf die Wende, war Venediktov‘s Wohnung ein merkwürdiger Ort: Hier konnte man wie auf einem Stuhl auf einem Stapel ausländischer Zeitungen sitzen („Le Monde“ vor allem), von einem polnischen Liedermacher halbverbotene Lieder auf Polnisch und auf Russisch hören, und das live erleben, was viel später Eurointegration genannt wird. Jetzt lebt B schon lange zwischen Berlin und München und hat auf Deutsch viele Artikel und einige Bücher geschrieben. Er versucht den Leuten, denen Freiheit und Demokratie in die Wiege gelegt wurde, zu erklären, wie schnell das Böse kommen kann, wie geschickt moderne russische Propaganda ist und warum Rechtspopulismus im Westen und Diktatur im Osten eng miteinander verwickelt sind. „Zu spät kam die Einsicht“ – schreibt er, – „dass hinter dem Phänomen westlicher Putinfreunde auch ein innenpolitisches Problem steckte: die Ablehnung der Demokratie und eine Affinität für Autoritarismus.“ Und zum Thema „Geopolitik“ zitiert er Hannah Arendt: „Der Souveränitätsbegriff des Nationalstaats, der ohnehin aus dem Absolutismus stammt, ist unter heutigen Machtverhältnissen ein gefährlicher Größenwahn…“ Ich wundere mich, was J dazu sagen würde.

Wenn ich jetzt diese zwei Geschichten meiner Bekannten vergleiche, bin ich, bei aller Ironie des Schicksals, mit einem zufrieden: es ist mindestens ernst. Wer sich eher in einer „illiberale Demokratie“ wohl fühlt, lebt dort. Und wer sich für europäische demokratische Werte engagiert, findet in der demokratischen Gesellschaft sein neues Zuhause. Nur eins bleibt offen: Sollte es irgendwann richtig hart auf hart kommen, kann J immer noch seinen im Birkenwald versteckten deutschen Pass wieder ausgraben und hoppla! einfach nach Hause abhauen, wo es bequem genug ist, in einer Demokratie zu leben und gegen Demokratie zu wettern. Ob B genauso problemlos zurück nach Russland kann, ist fraglich.