Schwarzwald-Dystopie: Unternehmer - Matthias Nawrat

Unternehmer - Matthias Nawrat

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Rowohlt Verlag

Lipa (13), ihr kleiner Bruder Berti und Vater sind das Unternehmen. Sie leben im Schwarzwald und isolieren seltene Erden wie Tantal, Wolfram und Kobalt aus ausrangierten Computern. Die heißen im Roman Robuster. Berti betritt bereits einarmig die Geschichte, denn ein Unternehmer muss Opfer bringen.

Eine märchenhafte Dystopie und eine schaurige Abrechnung mit dem modernen Präkariat der (Schein)-Selbstständigen und einer entsolidarisierten Arbeitswelt. Birgit Huber hat der Roman gefallen:

Zitat:

"Tantal und Wolfram, sagt Vater, werden uns besonders reich machen. Wir sitzen zu dritt am Tisch im Keller. Vater dreht die Platinen und Prozessoren zwischen den Fingern. Die größte Ladung ist es, die wir heute in unserem Anhänger mitgebracht haben, aus einem der Dörfer in der Ebene. Wir sind die besten Unternehmer in der westlichen Hemisphäre, niemand hat je so schnell einen Robusten in Anthrazit auseinandergenommen. Wie er wohl früher unter einem Schreibtisch gesummt hat, gerauscht, seine Arbeit getan? Berti und ich hebeln die Kontakte von den Plättchen. Bis Mutter uns von oben zum Abendessen ruft, schichten wir die Wolframfolien auf ein Häufchen, die Kobaltfolien auf ein anderes. Die Kobaltfolien knistern am schönsten." Zitatende

Lipa ist 13. Aus ihrer Sicht erfahren wir über das Leben dieser Schwarzwaldfamilie in der Nähe von Schönau. Vater, Lipa und ihr kleiner Bruder Berti sind das Unternehmen. Sie isolieren Rohstoffe, seltene Erden wie Tantal, Kobalt und Wolfram aus ausrangierten Computern, die hier Robuster heißen. Berti betritt schon einarmig die Geschichte. „Mein Arm fehlt, weil ein Unternehmen seine Opfer fordert“ erklärt er geduldig, wenn er gefragt wird. Kleiner Spoiler: Es wird nicht das einzige Körperteil bleiben, das geopfert werden muss.

Chef des Unternehmens ist Vater, Berti der Spezial und Lipa die Assistentin, oft Mitarbeiterin der Woche.

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich realisiert habe, dass Matthias Nawrat sein Setting vor einem dystopischen, postapokalyptischen Hintergrund angeordnet hat. Industrieruinen gibt es ja auch jetzt schon im Schwarzwald.

In Nebensätzen erfährt man aber von abgestürzten Raketen. Die Bevölkerung lebt im Elend, wobei es natürlich auch Reiche gibt. „in die Schule gehen nur Arbeitslose“, weiß Lipa und davon sind Berti und sie weit entfernt.

Die Unternehmerlogik ist den Kindern in Fleisch und Blut übergegangen. Zitat: „Es gibt keine unternehmensfreie Zeit. Entweder ist man Unternehmer oder nicht.“

Mit solchen marktkonformen Sprüchen und dem Sehnsuchtsort Neuseeland im Kopf, diszipliniert sich das Unternehmen täglich zu gefährlichen Unterfangen. Auch aus großen Maschinen, auch unter Wasser, auch durch messerscharfe Rotoren, müssen die Herzen der Computer geborgen werden.

Es dürfte kein Zufall sein, dass Matthias Nawrat sein kleines Himmelfahrtskommando die Blut- Rohstoffe Wolfram, Kobalt, Tantal sammeln lässt. Unverzichtbar für unsere Smartphones werden sie auch in der Gegenwart von Kindern in afrikanischen und asiatischen Ländern auf Müllhalden oder in Kobaltminen gefördert. Das ist allerdings kein Thema im Roman. Dort wissen die Menschen kaum, was hinter den Vogesen liegt, die sie täglich vor Augen haben.

Die Konkurrenz schläft nicht, leider auch nicht in dieser Geschichte und so muss das Familienunternehmen für immer weniger Geld immer mehr Risiken auf sich nehmen. Ein Hauch von Hoffnung entsteht durch Lipas erste Liebe, der lange Nasen Timo. Der sagt so Sätze wie: „Die Menschen sind zu gewöhnt an Arbeit. Sie können sich gar nichts anderes mehr vorstellen“. Er will mit Lipa zusammen die Vogesen überqueren und sehen, was dahinter ist.“ Aber das Schicksal hat anderes vor mit Lipa. Aus Not traut sich das Familien-Unternehmen in die Ruine eines „Weltraumkraftwerks“ im Elsass, es dürfte sich um Fessenheim handeln, und das ist der Anfang vom Ende dieser Geschichte.

In diesem dichten Text ist auf 140 Seiten jedes Wort gesetzt. Poetisch, kunstvoll, manchmal auch ein wenig künstlich. Mit der 13jährigen Lipa erlaubt sich Matthias Nawrat eine Perspektive, die größte Ungeheuerlichkeiten als normal erscheinen lassen. Lipa kennt ja nichts anderes. Und unweigerlich fragt man sich, ob wir selbst wirklich klüger sind als dieses Mädchen. Haben wir die kapitalistische Logik mit ihren Blutopfern nicht längst genau so verinnerlicht wie sie?

Ein wirklich besonderer Roman: „Unternehmer“ von Matthias Nawarat, 2014 bei Rowohlt erschienen.