Sylvie Meyer arbeitet in der Personalabteilung eines Gummiunternehmens.
Sie hat zwei Kinder, arbeitet zuverlässig und genau. Auch als sie den Auftrag bekommt, ihre Mitarbeiterinnen zu überwachen und auszusortieren, fügt sie sich zunächst. Gegen ihre eigenen moralischen Bedenken. Doch es kommt der Tag, an dem Schluss mit Lustig ist. In einem atemlosen Monolog skizziert Nina Bouraoui das Leben einer normalen, starken Frau. Mit überraschenden Wendungen. Moni Hoffmann ist beeindruckt:
Besprechung schriftlich:
Sylvie beschwört ihr Glück, ihr banales, kleines Glück. Sie kenne keine Gewalt, habe nie welche erfahren und trüge keine in sich, so beteuert sie. Sie ist eine ganz normale Durchschnittsfrau. Mitte 50, verheiratet, zwei Kinder. Leitende Angestellte in einem Unternehmen, das Gummi herstellt, die rechte Hand des Chefs. Hier macht sie Karriere, hat sich emporgearbeitet von der einfachen Arbeiterin und Gewerkschaftsvertreterin bis zur Produktionskontrolle mit monatlichen Prämien und Beifall bei der Jahresabschlussversammlung. Arbeit ist für Sylvie eine Möglichkeit, glücklich zu sein, sie liebt die Ordnung, die Routine, die Sicherheit. Den Bienen, wie sie die einfachen Arbeiter:innen nennt, begegnet sie auf gleicher Augenhöhe. Alles läuft wie am Schnürchen.
Mit dieser Erzählung beginnt der Monolog Sylvies, der sich über den ganzen Roman erstreckt. Das ist die sorgsam gehütete Geschichte unter der sich - man ahnt es - eine Lebenslüge verbirgt. Schritt für Schritt reißt der Firnis und das vermeintlich wohl geordnete Leben einer Frau, die mit sich im Reinen ist, entlarvt sich als pure Illusion.
Die Gewalt, der Sylvie ausgesetzt ist, der sie sich schweigend unterwirft und die schon lange auch in ihr selbst brodelt, bricht sich Bahn. Es beginnt mit einem diskreten Auftrag des Chefs.
Zitat:
„Sylvie, ich habe vollstes Vertrauen in Sie. Ich zähle auf Sie. Sylvie, wir stehen auf der gleichen Seite. Sylvie, ich brauche ihre Hilfe. Wirklich. Sie wissen, wie sehr ich Ihnen vertraue. Wenn Sie mir helfen, protegiere ich Sie. Es ist hart, aber alternativlos. Die Kosten kann ich im Moment nicht senken. Ausgeschlossen. Die Wirtschaftslage lässt es im Moment nicht zu. Es ist bitter, aber ich sehe keine andere Lösung. Also ja, wir greifen bei den Menschen ein. Und Sie werden eine Rolle spielen, Sylvie. Sie werden zur Dirigentin. Finden Sie heraus, wer der Firma schadet und wer nicht. Wer kann sich anpassen, wer nicht? Wer ist ein Störfaktor? Ich will ein Ranking. Ich weiß, Sie verstehen mich. Sie sind eine kluge Frau. Gemeinsam gelingt uns das, da bin ich mir sicher. Wir beide als Team.“
Zitatende
Willfährig erfüllt Sylvie den Auftrag. Sie erstellt Listen, spioniert, notiert, erhöht den Druck und erfindet gar ein noch leistungsfähigeres System, diejenigen herauszufiltern, die nichts taugen, ineffizient sind, sich auf Kosten der Firma faul in der Sonne aalen. Und sie gewinnt Lust an der Macht, die andere zerstören oder retten kann. Die Überlegenheit beflügelt sie, erregt sie.
Bis zu dem Moment, indem sie sich der Zurichtung bewusst wird, der sie ausgesetzt ist, ihre Traurigkeit, ihre Verlorenheit und ihre nach innen und außen gerichtete Gewalttätigkeit hervorbricht. Der Wendepunkt kommt schleichend. Sylvie wird sich mehr und mehr gewahr, zum Resonanzkörper ihres Chefs geworden zu sein und sich damit selbst zu sabotieren. So wie früher, als sie sich ohnmächtig, schweigend und passiv ihren Eltern, ihrem Ehemann, ihrem Jugendfreund ausliefert. Der Riss in ihrem Selbstbild lässt sich nicht länger zukleistern und Sylvie holt zu einem zerstörerischen Schlag aus, der sie hinter Gitter bringt und ihr gleichzeitig Befreiung und Genugtuung verschafft.
Zitat
„Ich […] bereute ich meine Tat nicht und wollte mich nicht verteidigen, ganz im Gegenteil. […] Ich bedaure sogar, nicht einen Schritt weitergegangen zu sein. Er hätte eine härtere Strafe verdient, und ich hatte ohnehin nichts zu verlieren. [….] Ich war für meine Tat verantwortlich. Ich hatte es gewissen Chefs im Namen ihrer Arbeiterschaft heimgezahlt, und ich war stolz darauf. Auch wenn es abgedroschen klingt: Es ist alles eine Frage des Gleichgewichts. Ich hatte die Kräfteverhältnisse wieder hergestellt, hatte jemand zermalmt, der seine Macht missbraucht, der die Schwachen herabsetzt. Ich war nicht gerade die große Rächerin, aber ich hatte einen Auftrag zu erfüllen, ungeachtet seines Ausgangs. Ausnahmsweise sehnte ich mich nach der Zukunft.“
Zitatende
Der Roman ist eine schonungslose Selbstabrechnung einer Frau, prototypisch für viele andere, die unter der Fremdbestimmung und Normierung, ihrer Ohnmacht als Frau und als Angestellte leidet und damit sowohl die patriarchalen als auch kapitalistischen Strukturen bloßlegt, die die Weichen ihres Daseins stellen. Sylvie funktioniert in ihrer Geschlechterrolle ebenso, wie sie sich den ökonomischen Bedingungen gefügig unterwirft.
Ihre Rebellion gegen diese Verhältnisse ist einsam, wie auch ihre Position als leitende Angestellte, als Erfüllungsgehilfin ihres Chefs. Sie steht mit ihrem Geltungsstreben zwischen den Klassen, buckelt nach oben, tritt nach unten, und kann ihre bescheidenen Privilegien nur mit absoluter Loyalität und Identifikation mit der Firma und dem Chef erkaufen. Sie untergräbt jegliche Solidarität, jegliches kollektive Aufbegehren und so bleibt ihr Aufstand isoliert und individuell.
Auch die Autorin Nina Bouraoui lässt ihre Protagonistin Sylvie alleine in dieser Ich-Erzählung, die ursprünglich als Ein-Personen-Theaterstück konzipiert war. Sie stellt dem kompromisslosen Gedanken- und Gefühlskarussell ihrer Protagonistin keine Kommentare einer allwissenden Erzählerin zur Seite.
Und es bedarf auch keiner weiteren übergeordneten Instanz – so viel ist gewiss.
Geiseln von Nina Bouraoui