Kommentar: Heinsberg = harmlos?

Heinsberg = harmlos?

Eine Studie die unter Leitung des Virologen Hendrik Streeck im stark von Covid-19 betroffenen Ort Gangelt im Kreis Heinsberg vorgenommen wurde, kommt zu einer niedrigeren Sterberate und gibt damit denjenigen Auftrieb, die die Kontakteinschränkungen für unnötig halten. Da man ein Recht auf Bewegungsfreiheit indirekt auch aus dem Grundgesetz ableiten könnte, schwingen sich manche Gruppen gar zu Verteidigern des Grundgesetzes auf. Wenn man das genau nehmen würde, so verstoßen auch Stoppschilder an den Straßen gegen das Grundgesetz. Was nicht heißen soll, dass die Corona-Maßnahmen nur Kleinigkeiten sind und dass über sie nicht diskutiert werden darf. Deshalb muss man sie aber nicht als Bedrohung von im Grundgesetz garantierten Freiheiten darstellen, mit allen Folgen, die so ein Vorwurf dann nach sich zieht. Doch sehen wir uns die betreffende Studie einmal genauer an.

 

Die Studie geht so vor: Ein Teil der Bevölkerung wird nochmals gründlich untersucht. Neben Tests auf Covid-19-Viren, den PCR-Tests, wird auch auf Antikörper gegen Covid-19 getestet. Dadurch erhöht sich die Zahl der von der Krankheit betroffenen gegenüber den ursprünglich positiv getesteten ganz erheblich. Nun schließt die Studie, dass nicht nur in der getesteten Gruppe sondern auch in der gesamten Bevölkerung von Gangelt entsprechend mehr Menschen tatsächlich infiziert waren. Durch die so errechnete Zahl der Infizierten wird anschließend die Zahl der Toten in Gangelt geteilt. Es wird davon ausgegangen, dass 7 Menschen in Gangelt an Covid-19 gestorben sind. Diese kleine Zahl ist ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor. Wären nur zwei Personen mehr oder weniger gestorben würde sich das Ergebnis schon wesentlich verändern.

 

Streecks Team nimmt bei der Berechnung auch zwei Korrekturen vor, die beide letztlich die berechnete Sterberate senken. Zum einen wird aufgrund von Untersuchungen angenommen, dass die Antikörpertests manchmal nicht anschlagen, obwohl eine Erkrankung vorlag. Also wird die Zahl der Infizierten einfach um einen kleinen Faktor erhöht. Die Möglichkeit, dass sie auch falsch anschlagen, also z. B. auf Antikörper gegen andere Corona- oder Grippeviren ansprechen, wird ausgeschlossen. Die zweite Korrektur betrifft die Zahl der Altfälle. Es wird festgestellt, dass der Anteil derjenigen, die bei der Untersuchung angegeben haben, dass sie bereits positiv getestet wurden, in der Testgruppe geringer ist, als der Anteil der positiv getesteten an der Gesamtbevölkerung von Gangelt. Deshalb wird angenommen, dass bereits positiv getestete weniger Interesse an der Teilnahme an der Studie hatten und mithin auch weniger bereit waren teilzunehmen. Daraus folgt eine zweite Korrektur. Die Korrektur geschieht, indem errechnet wird um wieviel der Anteil der bereits positiv getesteten zu klein ist und mit diesem Faktor wird dann der Anteil der Infizierten an der Bevölkerung multipliziert. Dieses Vorgehen ist falsch, denn der Anteil der Infizierten an der Bevölkerung wurde berechnet, indem die Zahl der bekannten Fälle und die Zahl der nachträglich ermittelten Fälle durch die Zahl der Personen geteilt wurde, die an der Studie teilgenommen haben. Die Korrektur sollte sich aber nur auf die Zahl der früher positiv getesteten beziehen. Richtig macht man die Korrektur, wenn man die Zahl der früher positiv getesteten entsprechend erhöht, nämlich von 22 auf 28 und die 6 virtuell hinzugefügten Teilnehmenden auch bei der Gesamtzahl der Teilnehmenden berücksichtigt.

 

Die Heinsberg Studie kommt in der beschriebenen Weise auf eine Sterberate von 0,278 %. Führt man die zweite Korrektur in unseren Augen korrekt aus, so kommt man auf eine Sterberate von 0,345 %.

 

Nun was bedeutet das für die Gefährlichkeit von Covid-19 und für einen Vergleich mit einer normalen Grippe? Wieviele Menschen am Ende sterben hängt von der Sterberate und von der Zahl der Infizierten ab. Im Gegensatz zur Grippe gibt es bei Covid-19 auf absehbare Zeit keine Impfung und es gibt auch keine Immunitäten aus früheren Erkrankungswellen. Außerdem sind Grippe-Epidemien stark saisonal beschränkt. Bei Covid-19 wird die saisonale Abhängigkeit als wesentlich geringer eingeschätzt. Man weiß auch nicht wie lange eine nach überstandener Krankheit erlangte Immunität anhält. Unter der Annahme, dass diese Immunität lange genug anhält, gibt es für jede Infektionskrankheit aber eine Schranke, die sogenannte Herdenimmunität. Diese ist erreicht, wenn so viele Menschen immun sind, dass der Anteil der noch infizierbaren nichtmehr ausreicht, um die Krankheit zu verbreiten. Bei welchem Anteil an Genesenen Covid-19 aufhören würde sich effektiv zu verbreiten, ist ebenfalls nicht bekannt. Die unterste Annahme, die ich bisher gehört habe, waren 60 %, manchmal wurden auch 70 % oder 80 % genannt.

 

Nimmt man diese 60 % als untere Schätzung so würde die von der Heinsberg Studie angenommene Sterberate zu rund 133 000 Toten in Deutschland führen. Führt man die zweite Korrektur dagegen richtig aus, so ergeben sich rund 166 000 Tote. Beide Zahlen sind mit großen Unsicherheiten behaftet, Wäre in Gangelt nur eine einzige weitere Person gestorben, so würde sich das Egebnis nach unserer Rechnung bereits auf 188 000 Tote erhöhen. Das ist nur ein Beispiel für die Unsicherheiten dieser Kalkulationen. Aber eine Größenordnung deutlich über 100 000 ist aufgrund der Heinsberg Studie plausibel.

 

Zum Vergleich: Bei der schweren Grippewelle 2017/18 gab es laborbestätigt 1674 Tote in Deutschland. Das Robert Koch Institut schätzt aufgrund des Anstiegs der Sterblichkeit dagegen insgesamt 25 100 Tote. Quelle:

https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2019/10/04-10-2019/mild-oder-schlimm-wie-war-die-letzte-grippesaison

 

Es gab vielfältige Kritik an der Heinsberg Studie. Berechtigt ist etwa die Frage, warum es notwendig ist, dass selbst vorläufige Ergebnisse einer wissenschaftlichen Unterschung von der PR-Agentur Storymachine beworben werden. Noch etwas fällt auf. Anfang März waren nur 3,1 % aller PCR-Tests auf Covid-19 positiv. Anfang April waren es 9 %, Ende April noch 5 %. Nach der Heinsberg Studie müsste es aber 5 mal mehr Infizierte geben, als positiv getestete Personen. Einen PCR-Test macht nicht irgendwer, sondern machen Personen, bei denen es Gründe für einen Verdacht auf Covid-19 gibt. Dass es so viele unentdeckte Fälle geben soll, die PCR-Tests aber in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit negativ ausfallen, ist seltsam. Man kann den Verdacht haben, dass die Antikörpertests doch nicht so spezifisch sind wie angenommen.

 

Alles in allem ist die Heinsberg Studie nur eine erste Studie und eine Studie, die mindestens in einem Punkt auf einer sehr kleinen Zahl von Fällen beruht, nämlich den 7 Toten in Heinsberg. Zum Ausweis der Harmlosigkeit von Covid-19 taugt sie schon deshalb nicht. Bei großen Gefahren sollte man sich im Zweifelsfall nicht für eine besonders niedrige Risiko-Abschätzung entscheiden.

 

Link zur Heinsberg Studie (ungeprüfte Vorabveröffentlichung):

 

https://www.ukbonn.de/C12582D3002FD21D/vwLookupDownloads/Streeck_et_al_I...

 

jk