Locarno Blog 10

Ein
Eigenbrötler kehrt zurück – Masahiro Kobayasis “Warakaranai”

Aus Locarno: Martin Koch

Ohne Masahiro
Kobayashi geht es nicht in Locarno. Zumindest
nicht in den letzten drei Jahren: erst gewann er für „Ai no yokan“
(„Die Wiedergeburt“) den Goldenen Leoparden, dann sass er in der
Jury, nun ist er wieder im Wettbewerb vertreten. Diesmal mit
„Warakaranai“ („Wo bist du?“), der sich oberflächlich als
anstrengender Film über das erwachsen werden beschreiben lässt.

Locarno Blog 10

Ein
Eigenbrötler kehrt zurück – Masahiro Kobayasis “Warakaranai”

Aus Locarno: Martin Koch

Ohne Masahiro
Kobayashi geht es nicht in Locarno. Zumindest
nicht in den letzten drei Jahren: erst gewann er für „Ai no yokan“
(„Die Wiedergeburt“) den Goldenen Leoparden, dann sass er in der
Jury, nun ist er wieder im Wettbewerb vertreten. Diesmal mit
„Warakaranai“ („Wo bist du?“), der sich oberflächlich als
anstrengender Film über das erwachsen werden beschreiben lässt.

Anstrengend heisst bei Kobayashi vor allem, dass dem Zuschauer ein
Minimalismus vor Augen geführt wird, dem schwer beizukommen ist.
Denn natürlich ist nicht auszuschliessen, dass er mit seiner
Darstellungsform des Lebens eines verarmten japanischen Teenagers auf
Vatersuche recht nah an dessen Lebensgefühl ist. Es ist ein
ständiger Kreislauf von ziellosen Wanderungen durch Strassen und
Hinterhöfe, dem hektischen Verschlingen immer desselben
Fastfood-Gerichts im verwahrlosten zuhause, Besuchen bei der Mutter,
die im Krankenhaus liegt, suchen, essen schlafen, suchen...

Das klingt
langweilig und spröde, ist in seiner Radikalität aber schon wieder
konsequent und man kann Kobayashi auch nicht vorwerfen, handwerklich
unsauber vorzugehen. Seinen jungen Hauptdarsteller Daisuke Maki lässt
er mit ziellosem Stoizismus halbgebückt durch die Stadt marschieren,
während die Kamera diesen Irrweg von hinten beobachtend mitgeht. Es
ist ein mechanisches, gleichförmiges und emotionsloses Bild, dennoch
erschliesst sich dem Zuschauer das Bild eines traurigen Daseins, das
aber nicht durch larmoyantes Mitleid, sondern durch pure Schilderung
der Situation gezeichnet wird.

Es ist Kobayashis
Versuch, seine fehlende Beziehung zu seinem jugendlichen Sohn
aufzuarbeiten, kürzlich haben sie sich nach mehreren Jahren erstmals
wieder gesehen. Es geht dem Filmemacher
auch darum, die Kälte der japanischen Gesellschaft aufzuzeigen, wenn
etwa ein Arzt den jungen Tatsuo über den Tod der Mutter
unterrichtet, um dann zu den unbezahlten Rechnungen überzugehen. In
Wahrheit, so gewinnt man den Eindruck, geht es aber um die Brechung
von Sehgewohnheiten und für das Medium Film konstruierten
Erzählstrukturen. An ihre Stelle tritt ein radikaler Realismus, der
so banal wirkt, dass ihm immer die Abqualifizierung als uninteressant
droht.

Doch der
Eigenbrötler Kobayashi hat auch den Mut zu diesen Ausdrucksformen zu
stehen und das Mechanische seines Stils nicht nur zu akzeptieren,
sondern auch zum Thema seines Films zu machen. So behandelte er vor
zwei Jahren die Aufarbeitung eines Schulmassakers, indem er den Vater
des Täters und die Mutter des Opfers bei Alltagshandlungen parallel
schnitt – erst im Laufe des Films erfährt man dann, dass sie bei
Teilen dieser Handlungen nur wenige Meter voneinander entfernt sind –
während der Mann isst, wäscht die Frau in der Kantinenküche das
Besteck ab. Dennoch erscheint das, was der Zuschauer sieht lange Zeit
wenig erbaulich – ein Mann isst, eine Frau wäscht ab. Da sie sich
auf ihre ganz eigene Art im Filmverlauf dennoch näherkommen und dem
Erzählstil seine Einzigartigkeit nicht abgesprochen werden kann,
fiel der Film der Locarno Jury 2007 dennoch auf. Es folgte der Preis
für den besten Film des Festivals.

Kobayashi braucht Locarno
und Locarno braucht Kobayashi. Denn was wäre ein Festival mit einem
radikal avantgardistischen Wettbewerb ohne einen derart
hervorstechenden Vertreter der Autorenzunft? Und was wäre ein
eigenbrötlerisch-visionärer Filmemacher wie Kobayashi ohne ein
Festival, dass seinen Stil in regelmässigen Abständen honoriert?