Nach dem Erdbeben war der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor allem bemüht, Kritik zu unterdrücken. Denn viele denken so wie es Erdogan noch vor drei Jahren selbst gesagt hat: "nicht das Erdbeben tötet, sondern das Unvorbereitetsein". Nun sollte sich Erdogan noch dieses Jahr zur Wiederwahl stellen. Der Termin wäre im Juni, doch aus Gründen der politischen Choreographie wollte Erdogan die Wahl auf den 14. Mai vorverlegen. Stattdessen gibt es nun im Regierungslager offenbar ernsthafte Überlegungen, die gleichzeitig stattfindende Wahl von Parlament und Staatspräsident zu verschieben. Deutlichstes Anzeichen war eine Rede des ehemaligen Parlamentspräsidenten Bülent Arinc im Fernsehen. Nach Arinc sollten die Wahlen "schleunigst" verschoben werden. Nun gibt es da den Paragraphen 78 der Verfassung, der eine Wahlverschiebung nur im Falle eines Krieges erlaubt. Der Präsident kann die Wahl zwar vor aber nicht rückverlegen, was ja eine willkürliche Verlängerung seiner Amtszeit wäre. Arinc wandte sich bei seinem Auftritt im Fernsehen aber gegen alle, die eben diesen Paragraphen zitieren: "Ja, diese Bestimmung gibt es, aber die Verfassung ist kein heiliger Text, sondern ein juristischer Text. Das gesetzgebende Organ kann einen Paragraphen der Verfassung jederzeit annullieren, ändern und einen neuen einsetzen".
Natürlich weiß der ehemalige Parlamentspräsident genau, dass das auch in der Türkei nicht ganz einfach ist. Mit Zustimmung des Staatspräsidenten braucht es noch immer eine Mehrheit von 60 % im Parlament. Doch diese Mehrheit haben Erdogans AKP und die mit ihr verbündete ultranationalistische MHP im Parlament nicht. Die Opposition ist aber geschlossen gegen eine Wahlverschiebung. Der Staatspräsident könnte auch ein Referendum ansetzen, aber dazu wäre die Zeit sehr kurz und das Referendum könnte zu einer Abstimmung gegen Erdogan werden und genau das will ja das Regierungslager mit der Wahlverschiebung verhindern.
Es ist aus mehreren Gründen auffallend, dass Bülent Arinc die Initiative ergriffen hat. Erdogan hat die Möglichkeit einer Wahlverschiebung bisher zwar angedeutet, aber nicht eindeutig ausgesprochen. Arinc war einmal nach Erdogan einer der einflussreichsten, wenn nicht der einflussreichste Politiker in der AKP. Dann wurde er aber von Erdogan zur Seite geschoben und man hörte lange Zeit nichtsmehr von ihm, bis er eben mit der Wahlverschiebung auftrat. Seine Worte können also nicht als Parteilinie gewertet werden, aber man wird davon ausgehen, dass so eine Initiative mit Erdogan abgesprochen ist. Andererseits kann man Erdogan für die Worte von Arinc nicht haftbar machen.
Nun überlegt man sich in der Türkei wie Erdogan zu einer Wahlverschiebung kommen könnte. Einige spekulieren, dass er einfach einen Krieg, etwa gegen die Kurd*innen in Syrien anfangen könnte. Doch Russland und Iran sind, weil sie nebenher eine weitere Aushöhlung von Asads Machtbereich durch Erdogan fürchten dagegen und auch die USA würden ihre Interessen in Syrien gefährdet sehen. Dann gibt es da noch Kriegsdrohungen gegen Griechenland, doch das wäre noch abenteuerlicher. Die andere Möglichkeit ist, ein irgendwie bemäntelter Verfassungsbruch. Erdogan hat sich großen Einfluss auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtes gesichert und es ist daher nicht sicher, dass es ihm in den Arm fallen würde, wenn er nach der Devise "Not kennt kein Gebot" die Verfassung zu seinen Gunsten kreativ auslegt. Aber ein Verfassungsbruch in einer Lage, in der seine Unterstützung durch Erdbeben und Wirtschaftskrise ohnehin zurückgeht, ist ebenfalls ein Risiko für Erdogan und er scheint sich noch nicht sicher zu sein, ob er es eingeht.
jk