Und wenn es in einer dystopischen Zukunft Sie wären, Herr Minister, der ein von anderen Wirtschaftsmächten kolonisiertes Padanien verlassen müsste?: Auf den Wogen des Meeres: Ein offener Brief an Matteo Salvini

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Auf den Wogen des Meeres: Ein offener Brief an Matteo Salvini

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In Reaktion auf seine Politik und Rhetorik gegen Seenotrettung verfassten die Anthropologen Andrea Staid und Matteo Meschiari einen offenen Brief an den italienischen Innenminister Matteo Salvini, der im italienischen Original am 4. Juli 2018 im Online-Magazin "Motherboard" erschien. Wir dokumentieren ihn hier in übersetzter Fassung.

Ausgehend von den Pflichten, die das Gesetz dem Innenminister vorschreibt, über die leere Sprache der Social-Media-Rhetorik und der Manipulation der Massen, führen die Anthropologen Andrea Staid und Matteo Meschiari Matteo Salvini zu einer traumähnlichen und dystopischen Vision dessen, was es bedeuten könnte, dasselbe Schicksal zu erleiden wie diejenigen, die von Salvinis geschlossenen Häfen zurückgewiesen werden.

Herr Minister,

wir haben beschlossen Ihnen zu schreiben, während Sie bei der Arbeit sind. Arbeit ist ein seltsames Wort, auch weil man manchmal das mit Arbeit verwechselt, was keine ist. Zum Beispiel besteht Ihre Arbeit als Innenminister nach dem Gesetzesdekret vom 30. Juli 1999 Nr. 300 darin, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu schützen und die Polizeikräfte zu koordinieren. Dies tun Sie, auf Ihre Weise, mit Eifer. Aber wussten Sie, dass unter Ihren Funktionen, die Sie – wie man bei der Arbeit sagen wrüde – zu erledigen haben, auch der „Schutz der Bürgerrechte, darunter die des religiösen Bekenntnisses, der Staatsangehörigkeit, der Immigration und des Asyls“ fällt?

Das Gesetz spricht eine klare Sprache: Immigration und Asyl sind Rechte, die geschützt werden müssen und keine Möglichkeiten, die in Ihren Händen liegen. Sie betreffen internationales Recht und Menschenrechte. Sicher, Ihnen ist wenig an der Welt da draußen und am Menschen gelegen, aber die eben zitierten Worte gehören zu einem ganz italienischen Gesetz, das auch Sie in die Schranken weist, ein Gesetz, dem zu dienen Sie geschworen haben, und das dürfte genügen um zu verstehen, dass sich Ihre Pflichten nicht in Kontrollen, Zurückweisungen und Karteien erschöpfen. Wie würden Sie einen Arbeiter nennen, der zwei Teile montieren soll und nur eines montiert, wie es ihm gerade einfällt? Aber sehen Sie, wir wollen nicht mit Ihnen über Gesetze reden. Wir sind nicht hier, um Sie mit Anthropologie zu langweilen. Wir wollen allzu abstrakte Reden vermeiden und das, wass wir zu sagen haben, werden wir so sagen.

Für eine Idee von öffentlicher Sicherheit arbeiten, indem man immer und auf alle Fälle die Sicherheitskräfte aufrüstet und schützt und mit dem Finger auf die Sinti und Roma und die Schwarzen als angeblich wahre Feinde der Italiener zeigt, ist nicht, wie einige es vertreten, ein Manöver, um die Leute von wer weiß welcher Palastintrige abzulenken. Auch die Art, wie Sie, Herr Minister, die Rhetorik des Bauches nutzen, um den Kopf der Leute auszuschalten, ist kein solches Ablenkungsmanöver. Zur Zeit gibt es sogar Menschen, die sich abmühen Ihre Reden zu analysieren, um zu zeigen, dass die Vulgarität und die willentliche Bosheit einiger Ihrer Sätze ein unerhörtes und intelligentes mediales Meisterwerk seien, ein schlauer Schachzug, um Ihre Wähler und Ihre Verläumder zu überlisten. Aber die Leute sind zu intelligent für so etwas.

Nein. Uns überraschen nicht einmal Ihre Breitseiten in den sozialen Medien, denn - auch wenn sie die wichtigste Zutat Ihres politischen Glücks sind – nicht Sie haben sie erfunden. Das geistige und moralische Terrain, dass diese medialen Bomben möglich macht, wurde von einen riesigen Anteil flüchtiger Mittäter bereitet, die Ihre Komplizen sind, auch wenn sie das Gegenteil glauben.

Wenn Sie twittern, dass die Karotten grün sind, stürzt sich die intellektuelle Linke des Landes (was auch immer das sein mag) auf Facebook darauf und kommentiert tagelang Ihren Satz, reißt sich die Haare aus, postet Fotos von orangenen Karotten, macht sich über Sie lustig, erfindet freche Memes, teilt Artikel von Experten für Botanik, weist darauf hin, dass „hätte“ kein Konjunktiv I ist, holt einen Satz von Pertini oder Gramsci über Karotten hervor, debattiert auf höchstem Niveau darüber, dass bisweilen eine Karotte auch grün sein kann, aber im Großen und Ganzen... , oder wünscht sich schließlich eine unwahrscheinliche parlamentarische Befragung herbei. Wir sehen wie Sie sehr klar, wo diese berühmte Karotte sich eingepflanzt hat. Und obwohl selbst es auch uns etwas unangenehm ist, sehen wir sie gut und schauen aufmerksam auf Sie. Nicht auf die Karotte, Herr Minister, auf Sie.

Wir sehen, dass ihre unpolitische Taktik nicht darin besteht, den Konsens durcheinanderzubringen und neu auszurichten, denn der Konsens ist eine komplizierte und unzuverlässige Einheit. Man muss ein Genie sein, um ihn zu manipulieren, und diese Macht hat weder Donald Trump mit seinem Hofstaat von spin doctors noch haben Sie es mit ihrem obskuren PR-Berater. Ihre unpolitische Taktik ist vielmehr diejenige, die Sie in den Fällen der Aquarius und Ihres Vorschlags, die Roma zu zählen, in vollkommener Form umgesetzt haben. Zwei schelmenhafte Auftritte, die – wie auch die nächsten, die zweifellos folgen werden – im Stande sind, nicht so sehr ein Klima des Hasses und der Spannung zu schafen, welche bereits, auch dank Ihnen, bestehen, sondern ein Klima der Gewöhnung und Faulheit.

Es ist ein wenig, wie wenn man Peperoncino an eine Speise gibt, nach und nach immer mehr, bis der betäubte Mund gar nichts mehr spürt und damit bereit ist, alles herunterzuschlucken, selbst wenn es verdorben ist. Das ist es, was wir bei Ihnen beobachten: Wie sie die Übertreibung in gängige Praxis überführen, sodass man sich das nächste Mal ein bisschen weniger empören wird, und am Ende wird man sich dann überhaupt nicht mehr aufregen. Und Sie wissen genau, dass auf eben diese Weise ganze Nationen Dinge akzeptiert haben, die die Geschichte später als Grauen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet hat.

Um die Wahrheit zu sagen, ist das nicht alles Ihr Verdienst. Die Gesetzgebung der letzten zwanzig Jahre hat die riesige Dosis sozialer Betäubung gut vorbereitet, auf die Minister wie Sie zählen. Darin hatten Sie einen brillianten Vorgänger [Marco Minniti, Partito Democratico, Anm. d. Ü.], der es liebte, den Sheriff zu geben, um nicht von Ihrem Namensvetter [Matteo Renzi, Anm. d. Ü.] Pseudo-Feind zu sprechen, dem es gelungen ist, eine authentische Politik gegen die Minderheiten und die Armen zu entwickeln, den berühmten „Piano Casa“ [Wohnungsgesetz, das u. a. Hausbesetzungen erschwerte] zu verabschieden und einen „Jobs Act“ [Arbeitsrechtsreform, Anm. d. Ü.] zum Vorteil der Reichen zu entwerfen. Nein, die Idee ist nicht von Ihnen, Herr Minister. Aber wir sehen Sie.

Wir sehen Sie, während Sie den italienischen Staat in einen Polizeistaat verwandeln wollen, der noch repressiver ist als der, der sich schon in anderen Phasen der neueren Geschichte gezeigt hat. Ohne allzu weit zurückzugehen: Die orgiastische Gewalt gegen die Demonstranten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, die Folter dort in den Kasernen, die jahrzehntelangen Haftstrafen, mit denen Frauen und Männer bis heute bezahlen müssen, dass sie damals entschieden hatten, gegen eine schändliche, auf den Neoliberalismus gründende Weltordnung zu protestieren. Aber sie wissen von Orwell (oder zumindest aus Black Mirror), dass die Polizei nicht reicht. Die Polizei reicht nie aus.

Sie wissen genau, dass es nicht reicht, die Schule untergehen zu lassen und die Universität in Ketten zu legen, um das freie Denken zu ersticken. Genauso wie sie sehr gut wissen, dass die Wirtschaft des Landes nicht auf die neuen Sklaven verzichten kann, und dass, wenn sie 100 an einem Hafen zurückweist, sie 1000 zum Fenster hereinlassen muss, wenn sie nicht die Unterstützung der neuen Sklavenhalter verlieren will. Sie wissen genau, dass 60% der Roma Italiener sind und dass die restlichen 40% (insgesamt 68.000) bereits nur zu gut von den Carabinieri und der Polizei registriert sind. Sie wissen gut, dass ein Familienminister, der mit sexistischen und xenophoben Organisationen sympathisiert, nicht allen italienischen Katholiken gefallen kann, erst recht nicht denen, die sich zu einer anderen Religion bekennen oder zu gar keiner. Sie wissen, dass die Zeitspanne, ob kurz oder lang, in der sie auf dem Ministersessel sitzen, einzig und allein vom Schlaf der Italiener abhängt. Aber dann wissen Sie auch, Herr Minister, dass sich im Schlaf die Träume verbergen.

Während Ihre Tagträume von einer verschreckten, kontrollierten, gespaltenen, bösartigen, maskulinistischen, rassistischen, klassistischen, homophoben und vor allem von Massen von Ignoranten, von ängstlichen Politikern bewohnten Nation, kurz gesagt von einem Italien nicht der Menschen, sondern der Feldwebel handeln, gehen die nächtlichen Träume der Menschen dagegen auf ihr eigenes Konto. Wir sprechen nicht von einer Welt, in der der Löwe und das Lamm gemeinsam aus dem Fluss trinken, in dem Milch und Honig fließen. Noch sprechen wir von einer Welt, in der die Banalität des Bösen vorbeigehen wird wie eine Lungenentzündung der Geschichte.

Wir sprechen von Träumen, die auch beängstigen können, die die Menschen in Alarmbereitschaft versetzen. Die dafür sorgen, dass sie am Morgen mit dem Gefühl aufstehen, dass etwas nicht in Ordnung ist. So mächtige und geschärfte Träume, dass sie dass sie auch in Ihren Kopf eindringen, Herr Minister, um Sie daran zu erinnern, dass Glück und Unglück rücksichtslos sind. In einem dieser Träume werden Sie eine gekrümmte Nase haben und jemand wird Sie in einem Lager internieren. In einem anderen werden Sie eine dunkle Haut haben und Ihre Ehefrau wird sie auf der Straße nicht wiedererkennen. In noch einem anderen werden Sie von Polizisten verfolgt werden und nur in einem Romacamp Zuflucht finden.

Betrachten Sie sie genau, diese Träume. Versuchen Sie sie sich vorzustellen, wenn Sie können. In einem dieser Träume werden chinesische oder indische multinationale Konzerne kommen und die heiligen Felder Padaniens aufkaufen, während die Kinder der Grünhemden [Lega-Anhänger*innen, Anm. d. Ü.] gezwungen sein werden, auf gut Glück auszuwandern, denn es wird keine Arbeit mehr geben, und so werden sie von kleinen Diebstählen und unterwürfigen Dienstleistungen in einem fremden Land leben.

In einem anderen Traum wird es Ihnen Bomben auf dem Kopf regnen, weil irgendjemand entschieden hatt, dass Ihre Regierung nicht mehr die richtige ist. Und so werden Sie Angehörige verlieren, Menschen, die Sie lieben und an denen Sie hängen, und Sie werden fliehen müssen und dafür alles Geld ausgeben, das Sie besitzen, sich unter der Erde verstecken, um den Knüppeln zu entkommen, sich auf morschen Kähnen einschiffen, die sie vielleicht sicher in ein Land ohne Konflikt bringen werden, vorausgesetzt, dass nicht ein Innenminister beschließt, die Häfen vor Ihrer Nase zu schließen, während Sie vor Krieg und Hunger fliehen.

Oder dieser: Ihre Tochter wird als Pflegerin einer alten Dame arbeiten müssen, die eine unbekannte Sprache spricht. Sie wird gezwungen sein, deren Reste zu essen, für den geringstmöglichen Lohn für eine sieben-Tage-Woche, eingeschlossen zwischen den Mauern eines fremden Hauses. Oder der, wo Frauen und Männer rebellieren werden und einfach ihr Recht fordern werden, zu leben, ohne von den wechselnden Regierenden unterdrückt zu werden, und Sie wären unter den Ausgeschlossenen der neuen Gesellschaft, unter denen, die schließlich und zu Recht Taugenichtse genannt werden. Sehen Sie, Herr Minister. Finden Sie nicht, dass all diese Träume entsetzlich sind?

Denn diese Träume sind keine Träume. Sie sind das Leben und das Gewissen der Menschen. Natürlich nicht Ihr Leben, nicht Ihr Gewissen, aber das Ihrer so geliebten Italiener. Träume, die Sie jeden Tag heimsuchen werden, eingeschrieben in Millionen von Gesichtern, auch derer, die Sie gewählt haben. Morgen, im Licht der Sonne, werden Sie ein Machtwort sprechen und den Hals aufblähen können. Aber dann wird die Dunkelheit zurückkehren. Der Schlaf. Und dort, Herr Minister, werden Sie wieder nackt auf den Wogen des Meeres treiben.