Vorschlag einer Wahlrechtsänderung: Europäisches Parlament stimmt für SpitzenkandidatInnen und gegen EU-weite Listen

Europäisches Parlament stimmt für SpitzenkandidatInnen und gegen EU-weite Listen

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Plenarsaal des EU-Parlaments in Strasbourg
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Wikipedia/J. Patrick Fischer, CC BY-SA 3.0
Das Europäische Parlament hat am heutigen Mittwoch über eine Veränderung des Europawahlrechts abgestimmt. Ein Grund für die vorgeschlagene Wahlrechtsänderung ist der anstehende Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union 2019. Denn damit stellt sich die Frage, was mit den 73 britischen Sitzen passieren soll. Einen Teil dieser Sitze wollte der Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments über sogenannte transnationale Listen vergeben, sprich europaweite Listen. Bislang wurden die Europaabgeordneten über Listen in den einzelnen Mitgliedstaaten oder gar in regionalen Wahlkreisen gewählt. (Update: Die transnationalen Listen wurden von einer Mehrheit im Parlament abgelehnt. Die Christdemokratinnen stimmten letzten Endes mehrheitlich dagegen.) Ausserdem zielte der Vorschlag darauf ab, das Prinzip von Spitzenkandidatinnen formal festzuschreiben, die für den Kommissionsvorsitz kandidieren. Auf dieses Prinzip hatten sich Parlament und Mitgliedstaaten bei der Europawahl von 2014 geeinigt. So wurde der Spitzenkandidat der Christdemokratinnen Jean-Claude Juncker damals zum Kommissionspräsidenten. (Update: Das Parlament stimmte letzten Endes für das Festhalten an den Spitzenkandidaten.) Früher konnten sich die Regierungen auf irgendeine Persönlichkeit für den Kommissionsvorsitz einigen. Spitzenkandidaten würden also die europäischen Institutionen also ein kleines Stück weiter in Richtung parlamentarische Demokratie führen, wo die Regierung massgeblich von der direkt gewählten Parlamentskammer abhängt. Für die vorgeschlagene Wahlrechtsänderung war eine Mehrheit im Europäischen Parlament erwartet worden. Doch das Parlament kann sie nicht alleine durchsetzen, sondern es ist dabei massgeblich auf die Zustimmung der Regierungen der Mitgliedstaaten angewiesen. Und zwar aller Mitgliedstaaten, denn es braucht eine Änderung der Europäischen Verträge, die von den Regierungen einstimmig beschlossen werden muss. Im Rat, sprich bei den Vertreterinnen der Mitgliedstaaten, gibt es jedoch Widerstände, insbesondere gegen den Vorschlag der transnationalen Listen. Vor allem osteuropäische Länder sollen sich dagegen stemmen.

Bei den gestrigen Pressekonferenzen im Europäischen Parlament äusserten sich drei der acht Fraktionen zur vorgeschlagenen Wahlrechtsänderung. Im Morgenradio (also noch vor der Abstimmung) fasste Matthieu ihre Stellungnahmen zusammen.

 

Manuskript (mit Ergänzungen):

Die rechtsradikale nationalistische Fraktion ENF, die sich sonst so gut wie nie einheitlich über aktuelle Gesetzesänderungen äussert, war das diesmal wichtig genug, um sich zu einer gemeinsamen Pressekonferenz aufzuraffen. Dort kamen deutliche Widersprüche zutage, als Marcel de Graaf von der niederländischen PVV erklärte, was mit den britischen Sitzen passieren solle und vor allem, wer darüber entscheiden solle.

Denn er prangerte wie üblich die undemokratischen europäischen Eliten an und die europapolitischen Vorschläge der Regierungsvertreterinnen Merkel und Macron. Aber wie stellt er sich Demokratie vor und wer soll über die Zukunft der britischen Parlamentssitze entscheiden?

O-Ton Marcel de Graaf:

"Das Europäische Parlament sollte kein Wort bei der Anzahl an Sitzen mitreden dürfen. Die Mitgliedstaaten sollten es tun. Sie sind die souveränen Institutionen der EU. Wenn ein Mitgliedstaat austritt, dann sollten dessen Sitze im Europäischen Parlament verschwinden. So einfach ist es. Die Mitgliedstaaten sollen die Grösse und die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bestimmen."

Sprich: Die rechtsradikalen Parteien beklagen einerseits die undemokratische EU, andererseits wollen sie aber nicht etwa den direkt gewählten Parlamentarierinnen mehr Macht geben, sondern den meist sehr indirekt gewählten Regierungschefinnen. Und sie beteuern zwar, die Regierungschefs sollten alles bestimmen, empören sich aber, sobald zwei dieser Regierungschefinnen, Macron und Merkel, eigene Vorschläge unterbreiten.

Udo Bullmann von der sozialdemokratischen Fraktion plädierte entschieden für die transnationalen Listen, auch wenn ihm bewusst war, dass dieses Vorhaben sehr wohl am Widerstand mancher Mitgliedstaaten scheitern könnte.

O-Ton Udo Bullmann:

"Wir plädieren auch für transnationale Listen als Verbesserung der europäischen Demokratie. Sie würden echten europäischen Bewegungen und Parteien das Wort geben.

Ich weiss: Jean-Claude Juncker gab sich vor einigen Minuten sehr skeptisch über die Konsensbildung darüber im Rat. Wir wissen, dass Mitgliedstaaten abgeneigt sein können. Aber wir plädieren dafür als echte Errungenschaft für unsere Bürgerinnen und wir werden nicht aufhören. Dasselbe gilt für das System der Spitzenkandidaten."

Auch der Grüne Fraktionsvorsitzende Philippe Lamberts plädierte deutlich für transnationale Listen und Spitzenkandidatinnen. Er betonte dabei die Argumente, die dafür sprechen und entkräftete die Gegenargumente.

O-Ton Philippe Lamberts:

"Ich glaube, dass wir hier im Parlament eine Mehrheit für transnationale Listen erhalten werden. Ich nenne sie einen föderalen europäischen Wahlkreis, denn darum geht es ja. Ich glaube, dass es Sinn ergibt.

Ich höre die Argumente mancher unter uns, die sagen: 'Aber wie wollen Sie, dass ein Abgeordneter, der auf EU-Ebene gewählt wird, in seinem Wahlkreis tatsächlich präsent ist?' Ich halte diesen Einwand für sinnvoll, aber meine Antwort lautet: Es geht nicht darum, das ganze Parlament über einen föderalen europäischen Wahlkreis zu wählen, sondern nur einen Teil davon.

Aber was ist das Interessante an dieser Sache? Reden wir über den Euro. Wenn ich Deutscher wäre, könnte ich sehr leicht über die notwendige Verantwortung bei der Verwaltung der Staatsfinanzen reden. In Rom kann man sehr leicht über die notwendige finanzielle Solidarität reden. Das Gegenteil ist viel schwieriger.

Doch wenn ich über eine transnationale Liste gewählt werde, muss ich natürlich in meinem ganzen Wahlkreis den selben Diskurs halten. Das heisst, ich muss sowohl über Solidarität als auch über Verantwortung reden, und das in Berlin genauso wie in Rom, Paris oder anderswo.

Ich glaube, dass es diejenigen, die sich in diesem föderalen Wahlkreis profilieren möchten, dazu zwingt, einen Diskurs zu halten, der tatsächlich ihrer Vorstellung des europäischen Allgemeinwohls entspricht. Und mehr Bindung beziehungsweise mehr Europa in ihrem europäischen Wahlkampf zu geben. Wir wissen, dass europäische Wahlkämpfe oft sehr national gestaltet werden."

Ausserdem erwartet Philippe Lamberts, dass transnationale Listen die Fraktionen im Europäischen Parlament dazu zwingt, ihre europapolitischen Widersprüche zu lösen. Solche Widersprüche sah er besonders unter den Mitgliedsparteien der liberalen ALDE-Fraktion und der christdemokratischen EVP-Fraktion.

O-Ton Philippe Lamberts:

"Es wird vielleicht die politischen Familien dazu zwingen, eine Reihe von Widersprüchen zu lösen. Denn in ALDE gibt es zwar hauptsächlich Pro-Europäer, aber es gibt dort auch fanatische Euroskeptikerinnen. Wenn Sie sich die FDP und die VVD anschauen, haben beide Parteien eine nationalpopulistische Wende genommen, übrigens genauso wie die österreichischen Christdemokratinnen und die französischen Les Républicains innerhalb der EVP.

Die tiefen Widersprüche mancher europäischen Parteien sind also offensichtlich. Ich glaube, dass die Mechanismen der Spitzenkandidaten und der transnationalen Listen dazu beitragen, die Sachen klarzustellen. Das wird meiner Meinung nach eine neue Zusammensetzung der europäischen politischen Landschaft durchsetzen. Ich glaube, dass diese neue Zusammensetzung willkommen ist, denn es ist wie bei der Etikettierung von Lebensmitteln: Der Wähler muss wissen, was er kauft, wenn er für jemanden stimmt."