Am heutigen Mittwoch bietet das Theater Freiburg eine Veranstaltung namens "Eine Stunde mit Faustin Linyekula" an. Sie ist Teil der Reihe Eurotopia beziehungsweise Das Europäische Hinterzimmer, die von Radio Dreyeckland im Februar und März begleitet wird. Die Veranstaltungsreihe mündet Anfang März in das Stück Eurotopia, was von acht RegisseurInnen und Choreographen produziert wird.
Der Choreograph Faustin Linyekula aus der Demokratischen Republik Kongo ist einer von ihnen. RDL hat mit ihm darüber gesprochen, was aus seiner Sicht Europa ist, was es sein sollte, und inwieweit die Kolonisation im Kongo heute noch spürbar ist. Matthieu hat ihn zunächst gefragt, was auf das Publikum zukommt bei der heutigen Veranstaltung "Eine Stunde mit Faustin Linyekula":
Die Veranstaltung findet um 20:30 im Theater Freiburg statt (Kammerbühne). Der Eintritt ist frei.
Vous pouvez aussi écouter l'interview en version originale (français) ici:
Hier die Transkription des Interviews:
FL: Es wird ein Moment sein, wo ich mich dem Freiburger Publikum vorstelle, das mich noch nicht kennt.
Wenn ich hier ankomme, dann liegt es an der ganzen Arbeit, die wir seit Jahren im Kongo entwickeln. Ich lebe in Kisangani, einer Stadt mit rund einer Million zwei hundert Tausend Einwohnern im Nordosten von Kongo.
Und die ganze Arbeit, die wir dort leisten, beruht wirklich auf dieser Frage: Was ist Kunst in einer Stadt? Und wie lässt sich diese Beziehung zusammenfügen, die nie von vornherein fest steht? Denn gerade in dem Moment, in dem man glaubt, dass alles von selbst läuft, beginnt alles einzustürzen. Auch bei einem Paar stürzt es ein, wenn man sich nicht bemüht, ständig wach zu bleiben und die Beziehung zu erneuern.
Und diese Überlegung, die unsere ganze Arbeit dort leitet, die bringe ich hierher nach Freiburg mit, und ich möchte sie mit dem Publikum teilen. Wie wir dort die Arbeit angehen. Die Fragen, die wir uns stellen. Die Lösungen, die wir uns bemühen zu finden. Und schauen, welche Parallelen sich ziehen lassen zwischen dem, was wir dort machen und das Vorhandensein eines Stadttheater wie diesen hier in Freiburg.
RDL: Als einen der acht Regisseure beziehungsweise Choreographen werden sie am Projekt Eurotopia des Theaters Freiburg teilnehmen. Sie sind ein kongolesischer Choreograph: Es ist nicht unbedingt die erst Person, an die man denkt, um über Europa zu sprechen. Welche Perspektive glauben Sie, dass sie dem Projekt Eurotopia geben können?
FL: Eben! Ich bin der Ansicht, dass mich Kongolese zu sein letztendlich ins Zentrum Europas versetzt. Viele Menschen denken heutzutage vermutlich nicht an Afrika, wenn sie sich Europa anschauen. Doch unsere gemeinsame Geschichte, und das sind mittlerweile mehrere Jahrhunderte, hat dazu geführt, dass Afrika europäisch wurde. Europa als Idee: Das hat Afrika gestaltet.
Historisch gesehen würde Afrika ohne Europa die Entstehung der Nationalstaaten nicht kennen, wie wir es heutzutage kennen. Alles wurde 1885 in Berlin entschieden, als Europa entschied, sich Afrika aufzuteilen.
Und der gesamte Kolonisierungsprozess ist ein Prozess, bei dem der Afrikaner gelernt hat, sich durch den europäischen Blick zu betrachten. Der Afrikaner hat gelernt, die Welt durch den europäischen Blick zu betrachten. Das führt dazu, dass sich Leute meiner Generation nach sovielen Jahren genauso sehr auf Europa als auf Afrika berufen.
Ich sage: Ich bin genauso europäisch wie alle anderen Europäer auch. Ich habe vielleicht zusätzlich etwas, was andere Europäer nicht haben, weil ich auch Afrikaner bin. Das gibt mir zwei Beine, auf die ich mich stützen kann. Während man ein bisschen gehbehindert ist, wenn man nur Europäer ist, glaube ich.
Ausserdem leben wir in einer Welt, die immer ungewisser wird. Die Zukunft, wie sie sich für die gesamte Menschheit ankündigt, wird immer ungewisser. Und wir müssen voneinander lernen, Lösungen für diese ungewisse Zukunft zu finden. Nun aber befasst sich die afrikanische Erfahrung seit Jahrhunderten damit, wie man mit der Ungewissheit umgeht, und wie man sich mitten in der Ungewissheit neu erfindet. Man kann vielleicht sagen, dass Europa von dieser Erfahrung lernen kann, um sich auf die Ungewissheit vorzubereiten, die auf sie zukommt, und dass Afrika dabei schon einen Vorsprung hat.
Und in Freiburg gibt es Afrikaner, die hier wohnen, die ihr Leben hier aufbauen, die hier träumen. Das ist auch Europa. Und ich finde es wichtig, dieses Europa zu Gehör zu bringen. Dieses Europa, das man nicht erwartet, das aber hier ist.
Aus all diesen Gründen glaube ich: Ja, ich habe wirklich meinen Platz in der europäischen Utopie.
RDL: In Interviews über Ihr künstlerisches Schaffen sagen sie oft, dass sie Geschichten erzählen. Welche Geschichte wollen Sie hier beim Projekt Eurotopia erzählen?
FL: Was es ist, heutzutage Afrikaner und Europäer zu sein. Es ist eine sehr weite Frage. Um es zu schaffen, um dem eine Form zu geben, wird es drei Porträts geben. Die Porträts der drei Personen, mit denen ich diese Schöpfung produziere. Aber nicht alle drei sind Afrikaner. Auch wenn es einen Bezug zu Afrika gibt. Denn ein Herr ist Ghanaer, aber er hat auch einen spanischen Pass. Der zweite Herr ist Kubaner. Und auch die Dame ist Ghanaerin. Aber sie wohnen hier, sie träumen hier und bauen ihr Leben hier auf.
Was bedeutet es, in dieser Stellung zu sein? Und eben: In einer Stellung zu sein, in der du dein ganzes Leben hier hast, aber wo dich im Alltag immer etwas auf ein Anderswo verweist, von dem du immer weiter entfernt bist. Man wird dir immer sagen können: Aber Sie sind doch nicht genau von hier. Und man sagt: Was ist es schliesslich, heutzutage von Freiburg zu sein?
Und während man nur über Freiburg spricht, spricht man über den Rest Europas, denn das Globale ist immer im Lokalen.
RDL: Dieses Projekt Eurotopia zielt darauf ab, darüber nachzudenken, was Europa ist, und was es sein könnte oder sollte. Diese Frage wurde allen Regisseuren oder Choreographen gestellt. Was ist Ihre Antwort, wenn ich Sie frage: Was ist Europa?
FL: Europa ist dieses Ideal an Offenheit, an Durchmischung, an Kreuzungen. Es ist nicht Europa, so wie ich es tagtäglich erlebe. Aber vielleicht spreche ich hier von dem Europa, das ich mir vorstelle. Dieser Raum für Offenheit, für Kreuzung. Dieser Raum, der lernt, mit sich selbst in Frieden zu leben, weil er den Mut gehabt hat, sich seine Vergangenheit anzuschauen. Und weil er erkannt hat, dass die ganze Welt nach Europa kommt, weil Europa zuvor in alle Welt gefahren ist.
Und wie kann man sich nun mit all dem morgen vorstellen? Und wie kann man mit dieser Erkenntnis Lösungen erfinden, die für alle funktionnieren? Denn wir wissen, dass das, was am anderen Ende der Welt geschieht, uns betrifft, ob wir es wollen oder nicht. Das ist Europa oder, um genauer zu sein, so träume ich es.
RDL: Das war eher Ihre Utopie, was Europa sein könnte oder sollte. Und in Bezug auf die Frage, was Europa heutzutage ist?
FL: Europa ist heute ein Riese, der Angst hat und sich also zusammenrollt. Ich denke, es ist unser aller Verantwortung, Europa daran zu erinnern, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben, sich einzusperren und sich zusammenzurollen.
RDL: Am 11. März werden Sie an einer Diskussion über Postkolonialismus in Afrika und Europa teilnehmen. Sie arbeiten gewöhnlich in der Demokratischen Republik Kongo. Wenn man von Kolonisation spricht, würden Sie sagen, dass sie dort im Alltagsleben spürbar ist, oder gehört sie der Vergangenheit an?
FL: Nein. Die Kolonisation ist gegenwärtig. Denn, bevor es institutionnelle oder wirtschaftliche Strukturen sind, ist die Kolonisation allen voran die Besatzung des geistigen Raums. Und wir leben heute noch in Räumen, in denen die Vorstellung von Legitimität nie als etwas begriffen wird, was von Innen kommt. Sie kommt immer von Aussen.
Unsere Staatschefs sind eher damit beschäftigt, den Zuspruch der europäischen oder generell der westlichen Hauptstädten zu erhalten. Es ist ihnen viel wichtiger, als den Zuspruch ihres eigenen Volks zu erhalten. Das ist eine koloniale Denkweise!
Und wenn ich nur auf den Haushalt meines Landes schaue: Der Haushalt der Demokratischen Republik Kongo wird zu mehr als 55% durch ausländische Hilfe finanziert. Das ist ein koloniales System!
Und die Tatsache, dass unsere Schulen wenig Platz für unsere eigenen Sprachen bieten. Es ist mir wichtig, meinen Bezug zur französischen Sprache zu verhandeln. Es ist mittlerweile zu meiner Erstprache geworden. Aber ich finde es schade, dass Französisch zu meiner Erstsprache geworden ist zu Lasten von den anderen Sprachen, die ich spreche. Warum? Ganz einfach, weil das Schulsystem die kleinen Kinder bestraft, wenn sie in der Schule die Sprache sprechen, die sie mit ihrer Mutter sprechen. Man wird bestraft, wenn man Swahili, Lingala, Kikongo oder Tschiluba auf dem Schulhof spricht.
Wir sind in einem Kolonialismus eingesperrt, und es ist gleichzeitig im Geist aber auch in den staatlichen Strukturen zu finden. Wenn es darum geht, das gemeinschaftliche Leben zu organisieren, sind wir immer noch in einem kolonialen Staat. Die Herausforderung für künftige Generationen lautet: Wie können wir es überwinden? Und wie können wir uns anders definieren als nur durch diesen Blick, der durch fünf Jahrhunderte gemeinsame Geschichte mit Europa aufgebaut wurde?