Macron verzichtet erneut auf das Parlament: französische Regierung will Rentenreformproteste antidemokratisch brechen

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französische Regierung will Rentenreformproteste antidemokratisch brechen

Rennes wird seit Tagen wegen der Rentenreform blockiert

Rennes wird seit Tagen wegen der Rentenreform blockiert
Rennes wird seit Tagen wegen der Rentenreform blockiert (expansive.info)
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Réseau Mutu

Mit Blockaden und Demonstrationen haben die Menschen in Frankreich auf die Anwendung des § 49-3 zur Durchsetzung der Rentenreform am 16. März reagiert. Zehntausende demonstrierten auch heute gegen die geplante Anhebung des Rentenbeitrittsalters in Frankreich. In Großstädten wie Nantes, Marseille, Lyon oder Paris gab es Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften. Rennes ist bereits seit mehreren Tagen durch die Verbarrikadierung der Zugangsstraßen kaum zu erreichen – an vielen Kreisverkehren gibt es landesweit Einschränkungen. Hintergrund ist nicht nur die befürchtete Rentenreform, mit der das Beitrittsalter auf 64 Jahre angehoben werden soll. Während weitere Themen wie steigende Lebenshaltungskosten oder etwa die Misere in Gesundheits- und Bildungssystem sich aufdrängen, steht erneut die ungebremste Arroganz des Präsidenten Macron und der Regierung Borne im Fokus der öffentlichen Kritik. Erneut wurde der „Sonderparagraf“ §49-3 benutzt, denn Macron bevorzugt offenbar die Herrschaft per Dekret. Am Donnerstagabend versammelten sich Tausende am Place de la Concorde. Landesweit wird von ungehorsamen Aktionen berichtet, etwa von Blockaden von Präfekturen, Bahnhöfen und weiterer „kritischer Infrastruktur“.

Um der unliebsamen Debatte zur massiv in der Kritik stehenden Rentenreform ein Ende zu setzen, beschloss die Regierung erneut auf die „Dicke Bertha“ zu setzen, wie der umstrittene Paragraf abfällig genannt wird. Mehrere tausend Anträge zur Abänderung der Reform wurden aus allen oppositionellen Lagern gestellt, doch die mehrwöchige Debatte war Elisabeth Borne und ihren MinisterInnen offenbar zu viel. Dem Reformprojekt setzten Gewerkschaften in den letzten Wochen große Proteste und Streiks entgegen, deren Heftigkeit seit den Neunzigerjahren ihresgleichen suchen. Am 7. März demonstrierten Gewerkschaftsangaben zufolge über 3.000.000 Menschen im ganzen Land. Proteste der letzten Wochen wurden massiv von CRS und Gendarmerie reprimiert. Unter anderem FreiheitsrechtlerInnen wie das „observatoire parisien des libertés publiques“ und die Menschenrechtsliga LDH berichten von zahllosen Übergriffen. Neben der üblichen Verwendung von CS-Gas und Blendschockgranaten kam es auch zum Einsatz von Tasern und Teleskopschlagstöcken – viele Einheiten begleiteten Demonstrationen mit HKG36-Sturmgewehren.

Abgesehen von den traditionell engagierten Verkehrsbetrieben, sowie streikenden Dockern, beteiligten sich zuletzt auch Beschäftigte im Energiesektor zunehmend am Protestgeschehen. Nach Ende der Warnstreiks Anfang März waren rund 30 Standorte von Kraftwerken, Raffinerien und Depots von Arbeitsniederlegungen betroffen – ohne zeitliches Limit. Am zentralen Standort für Kernkraftwerks-Ersatzteile Velaines in Lothringen, wurden nur Auslieferungen von Teilen zugelassen, die das Runterfahren von AKW ermöglichen. Jene Teile der nahe dem Atommüll-Endlagerprojektes CIGEO gelegenen EDF-Fabrik, die dem Anfahren oder dem Weiterbetrieb von Kernkraftwerken dienen, wurden zurück ins Lager geschickt. Neben Blockaden führten Kraftwerksdrosselungen zu Einbußen von über 12.000 MW. Immer wieder kappten Beschäftigte aus dem Energiesektor außerdem gezielt die Versorgung von Arbeitsplätzen und Privatwohnsitzen von Abgeordneten der Partei „Renaissance“ und denjenigen Senatoren, die die Reform begrüßten. Seit dem 15. März wurde nun der Strom der Ferienresidenz des Präsidenten im Fort de Brégançon im Var abgeschaltet.

Beeindruckende Protestbeteiligung erfuhren unter anderem die Peugeot/Citroën/PSA-Fabriken in Sochaux und Montbéliard im Dreyeckland. Aufgrund zunehmender Vermüllung des öffentlichen Raumes wegen des andauernden Streiks der Müllabfuhren, wurden heute vielerorts Militärs mit dem Aufräumen von Müllbergen gesichtet. Landesweit blockierten oder besetzten Linke zuletzt auch Schulen und Hochschulen. Seit dem Aktionstag vom 7. März und dem Ende der „Warnstreiks“ zugunsten einer Strategie der effektiven „Lahmlegung“ des Landes scheint das übergroße Bündnis aus Gewerkschaften immer mehr Rückhalt zu bekommen. Bei den jüngsten Protesten wurde oftmals auf die Beteiligung der jüngeren Generation verwiesen, die bei den ersten Demonstrationen zu Jahresbeginn kaum zu mobilisieren schienen.

Mit der Anwendung des § 49-3 umschiffen Macron und seine MinisterInnen erneut das Parlament, wie zuletzt für den nicht mehrheitsfähigen ersten Teil des Entwurfs des Haushaltsgesetzes für 2023. Seit Borne im Mai als Premierministerin vereidigt wurde, griff sie bereits ein Dutzend Mal auf diesen sogenannten „Veranstwortungsparagraphen“ zu. Sollte die parlamentarische Opposition ausreichend Rückhalt für ein Misstrauensvotum haben, drohen Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Dazu kam es seit Nutzung des Paragrafen allerdings noch nie. Die Bewegung gegen die Rentenreform und Macrons Überheblichkeiten scheint in jedem Fall nicht abzuschwächen.

Zwischenzeitlich waren in sozialen Netzwerken zahlreiche Hashtags mit Bezug auf die Proteste unerreichbar. Ob dies mit einer Anwendung des französischen „Fake-News“-Gesetz von 2019 zusammenhängt, das ermöglicht „ungeprüfte Inhalte“ im Netz zu zensieren, ist bislang ungeklärt. Aktuell stehen den großen Meinungsforschungsinstituten zufolge rund 70 % der Bevölkerung der angestrebten Reform kritisch gegenüber. Ob das Regieren per Dekret, Zensur und Repression die Stimmung für Macron und seine Leute verbessern wird, bleibt abzuwarten. Für den 17. März mehren sich Aufrufe für eine Demonstration vor der Nationalversammlung am Place de la Concorde in Paris. Genau dort, wo die Champs-Elysées beginnen, könnte Macron in seiner zweiten Legislatur ein Déjà-vu erleben.

LS