Lesekränzchen-Buchtipp 1: Sie kam aus Mariupol / Natascha Wodin

Sie kam aus Mariupol / Natascha Wodin

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Rowohlt Verlag

Hat den Leipziger Buchpreis 2017 gewonnen und ist auch Sieglinde Krauses Buch des Jahres: Die biografische - teils sachliche, teils poetische - Schilderung einer Spurensuche und einer Kindheit als Tochter russischer Zwangsarbeiter.

"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe..."

Diesen Satz hört die Ich-Erzählerin und Autorin Natascha Wodin immer wieder von ihrer Mutter, ohne dass sie erfährt, worum es sich hierbei handelt. Sie weiß auch sonst nicht viel mehr über die Mutter, als dass diese 1920 in Mariupol am Asowschen Meer geboren wurde, dass es eine italienische Großmutter gab und einen Kohlenhändler als Vorfahren. Das ändert sich von dem Tag an, als sie die wenigen Daten der Mutter, mehr als Spielerei, 2013 in eine russische Suchmaschine eingibt. Hier erfährt sie nach und nach, vor allem durch die Mithilfe eines sehr engagierten Russen, dass sie aus einem großbürgerlich-adligem Haus in Mariupol stammt, dass sogar ein bekannter Autor und ein berühmter Opernsänger zu ihrer Familie gehörten, und sie kann sogar per e-Mail und Telefon Kontakt zu den wenigen verbliebenen Verwandten aufnehmen.

Das Buch „Sie kam aus Mariupol“ schildert diesen Prozess der Aneignung einer unbekannten Herkunft in vier Teilen. Der erste Teil, spannend wie ein Krimi, berichtet von der Suche per Internet und Telefon. Der zweite Teil stützt sich auf die bei Verwandten in Sibirien gefundenen Tagebücher ihrer Tante Lidia, der Schwester ihrer Mutter, in dem man vor allem einen Eindruck von den Jahren nach der Revolution und den Umgang der neuen Herren mit der Bourgeoisie gewinnt. ( Zitat S. 176 f.“Eines Tages erscheinen Leute aus irgendeinem Komitee, um die „Überreste bourgeoisen Eigentums“ ganz legal zu konfiszieren. Die gute Tonja hat die lebenswichtigsten Dinge in einer großen Truhe verstaut und erklärt den Herren, dass der Inhalt dieser Truhe ihr persönliches Eigentum sei. Ihr, der Proletarierin, dürfen sie nichts wegnehmen. Während sie die Räume inspizieren und alles, was ihnen zwischen die Finger kommt, in riesigen Säcken verschwindet, schreit Tonja immer wieder: „Nein, das will ich haben, mir steht auch was zu vom Volkseigentum!“ Die Möbel und Teppiche werden auf Pferdefuhrwerke geladen, auch Lidias geliebte Trumeaus. Die Lüster werden von den Decken, die Vorhänge von den Fenstern gerissen. Zuletzt wird auch der Flügel hinausgetragen. Für immer, schreibt Lidia, verschwindet die Musik aus dem Haus.“ ) Aus diesen Tagebuch-Informationen, einigen geretteten Fotos und mit Hilfe vieler Mutmaßungen versucht Natascha Wodin im dritten Teil das Leben ihrer Mutter zu rekonstruieren, die mit ihrem Ehemann 1943 als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie nach Deutschland geht. Ob sie der Verfolgung durch die Russen entkommen wollten oder verschleppt wurden, kann man nicht mehr herausfinden. Schließlich hatte die deutsche Wehrmacht gerade in der Ukraine viele Arbeitskräfte angeworben und ihnen Arbeit und gute Wohnung versprochen. 30 000 solcher Lager gab es damals in Deutschland, Unterbringung nach Geschlechtern getrennt, auch für Eheleute, schlechte Verpflegung, lange Arbeitszeiten und kaum medizinische Versorgung. Schließlich beschreibt die Autorin im vierten Teil ihre eigene Kindheit in einem Lager für „Displaced Persons“ in der Nähe von Nürnberg, als Feinde, Asoziale oder Gesocks von den Deutschen verachtet und sozial isoliert. Die Mutter entzieht sich diesem für sie unerträglichen Leben durch Freitod im Wasser der Regnitz.

Das Buch ist weder nur Bericht noch nur Roman. Es ist das aufregendste und an Informationen reichste Buch, das ich in den vergangenen Monaten gelesen habe, zumal es durch seine Sprache- oft sachlich, manchmal lyrisch- ein großes Lesevergnügen bereitet. Wegen seiner Informationen über die Zeiten des Stalinismus, des Krieges und der Nachkriegszeit aus einer ungewohnten Perspektive wünsche ich ihm viele Leser.

Natascha Wodin, Sie kam aus Mariupol, Rowohlt 2017, 360 s., 19,95 Euro