Mit einem Federstrich hat der türkische Präsident den Austritt seines Landes aus der Konvention von Istanbul erklärt. Der ganze Titel der Konvention lautet: "Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt". Das Abkommen verpflichtet, die Staaten dazu die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung und in Gesetzen zu verankern. Sie müssen verschiedene Hilfen für Frauen einrichten, inklusive der Einrichtung von Frauenhäusern. Außerdem verpflichten sich die Staaten dazu eine Politik zu betreiben, die offensiv gegen psychische Gewalt gegen Frauen, körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt, Zwangsheirat, Verstümmelung der weiblichen Genitalien, Zwangsabtreibung, Zwangssterilisierung und sexuelle Belästigung vorgeht, bzw. solche Verhaltensweisen unter Strafe stellt. Das Abkommen wurde am 11. Mai 2011 in Istanbul feierlich beschlossen und anschließend von fast allen Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnet und von den meisten auch ratifiziert. Zu den Staaten, die es nur unterschrieben aber nicht ratifiziert haben, gehören unter anderem Großbritannien, die Ukraine, Ungarn und Bulgarien. Russland hat als einziges Land des Europarates das Abkommen nicht unterschrieben und entsprechend auch nicht ratifiziert. Die Türkei hatte die auf ihrem Boden beschlossene Konvention unterschrieben und ratifiziert. Das war auch ein gutes Aushängeschild, um dem Staat von Recep Tayyip Erdogan einen modernen und menschenfreundlichen Anstrich zu geben. Doch in letzter Zeit geriet die Istanbul-Konvention immer mehr unter den Beschuss konservativer Kreise, inklusive von Teilen der Regierungspartei. Erdogan selbst befürwortet ein paternalistisches Verhältnis zu Frauen, Anerkennung und Schutz ja, volle Gleichberechtigung nein. Außerdem sollen Frauen vorallem viele Kinder bekommen. Politisch dürfte es ihm im Moment vor allem darum gehen, die Reihen der Konservativen zu schließen. Sein ehemaliger Wirtschaftsminister Ali Babacan und der ehemalige Außenminister und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu machen Erdogan politische Konkurrenz und dabei läuft die Wirtschaft nicht nach Plan. Gerade eben erst hat Erdogan schon wieder den Chef der Zentralbank gefeuert. Die Nachricht von der Absetzung des von Erdogan selbst erst im November eingesetzten Zentralbankchefs und die Nachrichten vom Rückzug von der Istanbul-Konvention folgten nur wenige Minuten nacheinander. Diejenigen die sich über die Aufhebung der Konvention von Istanbul empören, dürften ohnehin zum größeren Teil keine Erdogan-Wähler*innen sein. Etwas innenpolitischer Knatsch mit ihnen lenkt von der ökonomischen Misere ab und schließt das konservative Lager mehr um Erdogan. So mag der Präsident denken.
jk
Update: Am Mittag demonstrierten zahlreiche Frauen in mehreren Städten spontan gegen die überraschende Aufhebung der Istanbul Konvention in der Nacht von Freitag auf Samstag. Demonstrantinnen zogen durch Istanbul (Kadiköy), Izmir, Antalya, Eskisehir, Ordu und Gazi Antep. In Ankara hing vom Sitz der Anwalts/Anwältinnenkammer ein riesiges Transparent, auf dem die Beibehaltung der Konvention gefordert wurde.
Der Innenminister Süleyman Soylu erklärte, ob es einen internationalen Vertrag gebe oder nicht sei unerheblich: "Unsere Verantwortung und die Arbeiten, die wegen der Verantwortung notwendig sind, werden deshalb weder verringert noch vermehrt". Die Frage, warum der Vertrag dann mitten in der Nacht aufgehoben werden musste, blieb damit allerdings offen.