Wenn Belgier den Verstand verlieren...

Ich habe einen neuen Favoriten:

"A perdre la raison" (zu deutsch etwa: Den Verstand verlieren), des noch recht jungen belgischen Regisseurs Joachim Lafosse (geboren 1975), der seit 2004 abendfuellende Featurefilme dreht, vom dem ich persoenlich aber bisher noch nichts gehoert hatte.alt
Die Handlung des Films (Lafosse ist zugleich einer der drei Drehbuchautoren) basiert lose auf einer wahren Geschichte, ohne aber dokumentarisch diese wiedergeben zu wollen.
Worum es geht? Ich werde den Schluss hier nicht veraten, aber der Film erzaehlt von einem jungen Paar (Murielle und Mounir), das eine Familie gruendet und Kinder bekommt (ungewoehnlich, was?). Der junge Mann stammt aus einer armen marokkanischen Familie, ein wohlhabender Arzt hatte ihn damals als Kind adoptiert, mit dem Einverstaendnis der marokkanischen Eltern, und mit nach Belgien genommen. Murielle versteht sich gut mit ihrem aelteren Schwiegervater, und da das Paar wenig Geld hat, beschliessen sie, das Angebot des einsamen aelteren Herrn anzunehmen und zu ihm in sein Haus zu ziehen. Und auch seine grosszuegigen finanziellen Zuwendungen anzunehmen.

Wenn Belgier den Verstand verlieren...

img_15791.geaendert.jpg

alt
Der Regisseur und die beiden Hauptdarsteller bekommen nach der Premiere des Films in Cannes begeisterten Applaus
Lizenz: 
Keine (all rights reserved)

Ich habe einen neuen Favoriten:

"A perdre la raison" (zu deutsch etwa: Den Verstand verlieren), des noch recht jungen belgischen Regisseurs Joachim Lafosse (geboren 1975), der seit 2004 abendfuellende Featurefilme dreht, vom dem ich persoenlich aber bisher noch nichts gehoert hatte.
Die Handlung des Films (Lafosse ist zugleich einer der drei Drehbuchautoren) basiert lose auf einer wahren Geschichte, ohne aber dokumentarisch diese wiedergeben zu wollen.
Worum es geht? Ich werde den Schluss hier nicht veraten, aber der Film erzaehlt von einem jungen Paar (Murielle und Mounir), das eine Familie gruendet und Kinder bekommt (ungewoehnlich, was?). Der junge Mann stammt aus einer armen marokkanischen Familie, ein wohlhabender Arzt hatte ihn damals als Kind adoptiert, mit dem Einverstaendnis der marokkanischen Eltern, und mit nach Belgien genommen. Murielle versteht sich gut mit ihrem aelteren Schwiegervater, und da das Paar wenig Geld hat, beschliessen sie, das Angebot des einsamen aelteren Herrn anzunehmen und zu ihm in sein Haus zu ziehen. Und auch seine grosszuegigen finanziellen Zuwendungen anzunehmen.

Aber allmaehlich stellt Murielle fest, dass der Einfluss des Schwiegervaters auf ihren Mann immens ist, er ist ein Patriarch, durchaus liebevoll zu seinen Enkelkindern, aber auch ein Mensch, der es gewohnt ist, seine Umgebung zu kontrollieren. Es ist sein Haus, sein Geld, er gibt Mounir eine Arbeit in seiner Praxis, er meint es wohl gut, aber seine Dominanz kann manchmal erdrueckend sein, zumindest empfindet es Murielle so, waehrend ihr Mann Mounir dem alten Mann Dankbarkeit zollen moechte und keine Kritik an ihm zulaesst.

alt
Eine sichtlich bewegte Isabelle Huppert gratuliert der jungen Crew zu ihrem Film

Als ungewollt nach drei Kindern, die alle noch sehr klein sind, noch ein viertes dazukommt, hat Murielle das Gefuehl, es nicht mehr zu schaffen.
Sie hatte bereits zuvor psychische Probleme, jetzt aber beginnt ihr alles ueber den Kopf zu wachsen, die Kinder, die permanent Aufmerksamkeit und Zuwendung einfordern, ihr Mann, der immer oefters reizbar und schlecht gelaunt ist, der Schwiegervater mit seiner manchmal erdrueckenden Praesenz... und sie verliert die Nerven...

Das Beeindruckende an dem Film war fuer mich weniger die Geschichte an sich, sondern die feinen, differenzierten Personenportraets, die er zeichnet, ohne schwarzweisse Zuschreibungen, ohne die Figuren in gut und boese einzuteilen, ohne Defizite oder Schuld eindeutig zuzuordnen...
Anfangs steht eher Mounir im Zentrum der Handlung, dann aber wird Murielle der Mittelpunkt der fein beobachtenden Studie, die es auch ohne spektakulaere Bilder und effekthaschende Schauwerte schafft, einen in ihren Bann zu ziehen...

Der kleine, sicher mit niedrigem Budget gedrehte Filme, eine belgisch-luxemburgisch-franzoesisch-schweizerische Koproduktion, hat offenbar nicht nur mich beeindruckt: Nach der Premiere des Films bekam die Crew Standing Ovations durch das sichtlich bewegte Publikum, und das in einer Laenge, wie ich es hier in Cannes noch nicht erlebt habe. Sicher eine Viertelstunde lang wollte der Applaus nicht abebben, der Regisseur und die jungen Darsteller wussten irgendwann nicht mehr, was sie tun sollten, standen verlegen im grossen Saal des "Debussy"-Festivalkinos und laechelten nur noch verlegen (aber gluecklich, hatte ich den Eindruck!). Ich glaube, da haben auch sie ein bisschen den Verstand verloren...

Leider lief der Film nicht im grossen Wettbewerb, sondern in der offiziellen Nebenreihe, dem "Certain Regard" - aber auch aus dieser Reihe werden Filme praemiert.
Ich werde sicher die Daumen druecken!
Und das wird wohl auch die grossartige franzoesische Schauspielerin Isabelle Huppert tun, die bei der Premiere im Zuschauersaal sass, nach dem Film sichtlich bewegt applaudierte und anschliesend im Foyer der jungen Crew gratulierte (und es mir gluecklicherweise gelang, davon ein Bild zu schiessen...!).

ASR