Berufungsverfahren gegen AtomkraftgegnerInnen in Nancy: Fragliche Ermittlungsmethoden gegen inexistente „Übeltäterbande“

Fragliche Ermittlungsmethoden gegen inexistente „Übeltäterbande“

Cour d'Appel

Berufungsgericht in Nancy – Luc Śkaille
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Am 28. und 29. November erfolgte in Nancy die Berufung im Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und weiteren Delikten im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Frankreichs Atommüllendlagerpläne in Bure. Nachdem das im Juni 2021 in erster Instanz verhandelte Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, angeblichem Sprengstoffbestiz und der Beteiligung an und/oder Organisierung einer nicht genehmigten Demonstration in 2017 mit einem Freispruch und sechs Verurteilungen endete, gingen sämtliche Parteien in Berufung. Bereits im erstinstanzlichen Urteil vom September 2021 wurden die Vorwürfe der „kriminellen Vereinigung“ fallen gelassen. Der schwerwiegende Vorwurf, welcher die umfassenden Ermittlungen, inklusive Geolokalisierung, Telekommunikationsüberwachung, DNA-Analysen und zwei Dutzend Hausdurchsuchungen überhaupt erst ermöglichte, wurde im jetzigen Verfahren zur Erleichterung der Angeklagten überhaupt nicht mehr verhandelt.

Rund 50 UnterstützerInnen, JournalistInnen und BeobachterInnen der französischen Menschenrechtsliga begleiteten die Angeklagten vor der Berufungskammer in Nancy, während die KleinbäuerInnen-Gewerkschaft „Confédération Paysanne“ vor dem Gericht Flammkuchen und Getränke reichte. Wie schon in erster Instanz begann das AnwältInnen-Kollektiv mit schwerwiegender Kritik an der von Ermittlungsrichter Kevin Le Fur geleiteten Prozedur. Mehrere Interessenskonflikte und Ermittlungsfehler wurden dabei hervorgehoben. Le Fur nutzte etwa eine von ihm geführte Gerichtsverhandlung in Bar-le-Duc, um durch den Einsatz von IMSI-Catchern Daten der ProzessbegleiterInnen für seine Ermittlungen zu erheben. Erneut wurde angeprangert, dass rund 300 Seiten an Akten erst zu einem verspäteten Zeitpunkt beigefügt wurden. Generalstaatsanwältin Agnès Cordier betitelte diese als „irrelevant“, was im Saal für Empörung und Unverständnis sorgte. Der schwerwiegendste Interessenskonflikt wurde durch brandneue Veröffentlichung des Portals ‚Mediapart‘ deutlich, indem Belege für umfassende Geldzuwendungen der Endlageragentur ANDRA zugunsten der Gendarmerie bekannt wurden. Kann also eine Agentur, die zuvor als Nebenklägerin auftrat, zugleich die Ermittlungsbehörden finanzieren?

Richter Vincent Totaro schien im Laufe der Verhandlung besonders angesichts verschwundener Asservate Zweifel an der Schlüssigkeit der immerhin 22.000 Seiten umfassenden Ermittlungsakten zu bekommen. In ihrem Plädoyer blieb auch die Generalstaatsanwältin weit hinter ihrem Vorgänger Sofian Saboulard zurück. Zwar verschoben sich die meisten Bewährungs-Haftstrafen auf 10 Monate. Es kam jedoch nur noch eine Forderungen zur Inhaftierung Bschuldigter vor. Hierbei seien in erster Linie Vorstrafen von Relevanz. Der Zusammenhang zwischen den Beschuldigten und gefundenen Brandsätzen und Pyrotechnikgegenständen blieb äußerst schwammig. Der Kernpunkt der Verhandlung wurde, jetzt, wo keine kriminelle Organisation mehr Gegenstand der Anklage war, die nicht-angemeldete Demonstration des 15. August 2017. Folgerichtig verteidigten die vier auf Freispruch plädierenden Anwälte das Recht ihrer MandantInnen, eine umfassende Meinungs- und Versammlungsfreiheit genießen zu dürfen. Es sei völlig unklar, ob Aufforderungen zur Auflösung der Versammlung für die zum Teil womöglich anwesenden Personen wahrgenommen wurden.
Ihre angebliche Implikation in Strukturen wie Meidengruppen, Demosanis oder Ermittlungsausschüsse mache aus ihnen keine OrganisatorInnen der Demonstration. Außerdem sei das Nicht-anmelden von Versammlungen in Bure und an anderen Orten des Widerstandes gegen die Atomindustrie längst ein umfassend akzeptierter Brauch.

Die schikanösen Ermittlungsverfahren verfolgten laut Verteidigung primär das Ziel, die Bewegung gegen das CIGEO-Projekt zu durchleuchten, einzuschüchtern und zu lähmen. Die verhängten Aufenthalts- und Kontaktverbote, die Beschlagnahme technischer Utensilien in einem überschlagenen Gesamtwert von über 40.000 €, die Militarisierung der Auseinandersetzungen und Polizeigewalt habe vor allem einen antidemokratische Charakter. Frankreichs Justiz würde durch die Atomindustrie „für politische Zwecke missbraucht“, so Anwalt Matteo Bonaglia.

Seit Ende der 1990er Jahre versucht die Endlageragentur ANDRA, mit der Etablierung des, als Forschungslabor gerechtfertigten Standortes, die größte bisher geplanten Atommülldeponie der Welt auszubauen. Nebst den im Verfahren thematisierten polizeilichen und nachrichtendienstlichen Methoden spielen Begleitzahlungen in Millionenhöhe und Jahrzehnte an Falschinformation zur ökologischen und ökonomischen Wertschöpfungskette der Atomindustrie eine gehobene Rolle. Über Frankreichs Grenzen hinaus erlangte der Widerstand in Bure besonders durch die anderthalbjährige Waldbesetzung des projizierten Tiefenendlagers an Bekanntheit. Zahlreiche Demonstrationen, Sabotageaktionen und Ausschreitungen prägten den Widerstand der vergangenen Jahre. Durch die Anerkennung öffentlichem Nutzens (DUP) des Endlagerprojektes im vergangenen Sommer drohen Landenteignungen und eine weitere Zuspitzung des Konfliktes.

Während zumindest dieses Verfahren wegen krimineller Vereinigung in Bure vom Tisch ist, hat der Atomstaat bereits weitere Antiterror-Ermittlungen gegen EndlagergegnerInnen eröffnet. Aktionen gegen die an CIGEO beteiligte Seilbahnfirma POMA führten in der jüngeren Vergangenheit zu Hausdurchsuchungen und der Eröffnung eines neuen Großverfahrens im Osten Frankreichs. Die ursprünglich auf drei Tage angesetzte Verhandlung vor dem Berufungsgericht in Nancy endete überraschend schnell am Dienstagmittag. Nach umfassenden Prozesserklärungen in erster Instanz gab es diesmal kein Schlusswort der Beschuldigten: Alle behielten das Schweigen. Ein Urteil wird am 26. Januar 2023 um 13:30 Uhr vor der Cour d’Appel in Nancy verkündet.

LS