Ein Konzert von Jan Delay zu erleben steht schon lange auf meiner To-do-Liste, nicht zuletzt, weil mir mein Bruder dies immer wieder empfohlen hat. Gestern auf dem diesjährigen ZMF war es dann soweit. Ausgehend von meiner schlechten Erfahrung vom Donnerstag bei Clueso im großen Zelt – ich stand hinten oben und konnte nicht verstehen, was gesungen wurde, und es war ungefähr +50° - bin ich diesmal früh da und finde ein Plätzchen relativ weit vorne. Eine gute Wahl, denn hier ist der Sound deutlich besser und die Temperaturen erträglicher, zumindest am Anfang. Denn am Schluß
des Konzerts wird es überall im Zelt Wüstentemperaturen haben.
Den Anfang machen Bounty&Cocoa als Support, zwei Rapper:innen aus Berlin, ein DJ stellt die Beats bereit, über die die beiden rappen. Der Sound ist reduziert und dadurch unglaublich fett, besteht eigentlich nur aus BOOOOOM und TSCHAKK. Ihre (deutschen) Texte verstehe ich dann nicht immer, aber das, was ich mitkriege, scheinen eigentlich immer wieder Variationen ein und desselben Themas zu sein: sie sind cool, leben ihr Leben im coolen Berlin selbstbestimmt, und machen Ansagen an die, die es nicht raffen. Es kommt locker und cool rüber, aber nach einer Weile langweilt es mich, weil es eher um die Coolness der beiden zu gehen scheint, als um Inhalte – ein generelles Problem, dass ich mit den allermeisten Rap-Acts habe. Man kann auch dazu tanzen, aber nur cool eben. Nach einer halben Stunde ist der Auftritt der beiden bildhübschen, aus Cuba stammenden Rapper:innen vorbei. Zack ist das DJ-Mischpult weggeräumt, aber es passiert eine halbe Stunde lang nichts. Es hätte mich sehr interessiert warum, aber wahrscheinlich ist die Erklärung einfach: damit alle nochmal auf Toilette gehen, etwas trinken und nochmal auf Toilette gehen können, bevor
sie sich noch ein Getränk mit ins Zelt nehmen. Was ich auf der Bühne sehe, gefällt mir schonmal – unter anderem ein altes Fender Rhodes, mit dem man den Funk evozieren kann. Da, wo wahrscheinlich die Bläser stehen werden, finden sich auch noch zwei kleine Trommeln, und es sind zwei Congas mittig vor dem Schlagzeug platziert. Um kurz nach neun betritt die Band Disko No.1 mit Jan Delay die Bühne – und das komplette Zelt fährt gefühlt in 5 Sekunden von null auf hundert hoch. Jan Delay wirkt authentisch und null abgehoben. Ich habe das Gefühl, dass er mich meint, wenn er in meine Richtung schaut und gutgelaunt das Publikum auffordert, mit ihm Party zu machen, und damit rennt er offene Türen ein.
Die 12-köpfige Band brennt in den nächsten zwei Stunden ein Feuerwerk ab, das keine Wünsche offen lässt. Ein Trompeter, ein Saxophonist und ein Posaunist verfeinern jeden Song mit ausgefeilten Bläsersätzen. Drei Backgroundsängerinnen singen nicht nur im Hintergrund, sondern werden auch immer wieder gefeatured, haben kleine Soloeinlagen, in denen sie zeigen, dass sie großartige Stimmen haben. Zur klassischen Bandbesetzung mit Gitarrist, Bassist, Drummer und Keyboarder gesellt sich noch ein weiterer Tastenmensch, sodass die Band beinahe jeglichen Sound
und Musikstil erklingen lassen kann – und das machen sie auch. An einer Stelle tut Jan Delay so, als wäre er ein DJ: während ein Groove läuft – es ist ein bekannter Hit, nicht unbedingt von ihm,
irgendein Funk & Soul – Klassiker - macht er eine Wischbewegung mit der Hand und dazu das entsprechende Geräusch mit dem Mund und die Band schaltet ansatzlos in den Groove, die Tonart und den Sound eines weiteren Klassikers. Das macht er mehrmals kurz hintereinander, redet ganz locker dabei und ist immer in Bewegung. Überhaupt bespielt der Mann aus Hamburg ständig die gesamte Bühne, spricht sein Publikum an, vorne, hinten, links, rechts, Jan Delay ist überall und meint jeden hier.
Dass dies die letzte Show vor der Sommerpause ist, merkt man der Band an: alle sind aufeinander eingespielt, man hat das Gefühl, ins Innere eines großen Uhrwerks zu schauen, wie alle großen und kleinen Räder ineinandergreifen, um in Perfektion diese Show hervorzubringen. Das ist wirklich eine Show, nicht nur ein Konzert, und man kann sich denken, dass viele kleine Einlagen im Zuge der Tournee entstanden sind – hey, wie wär's, wenn wir hier zwischen den Einsätzen eine schnelle Drehung machen – alles klar, gebongt! Soviel passiert hier auf der Bühne, man kann fast gar nicht alles mitverfolgen. Einmal tun die Sängerinnen so, als wären sie Marionetten, die an Fäden hängen, was wirklich unheimlich aussieht, ein anderes Mal performen sie krasse Breakdance moves, die erstklassig und auf Profi-Niveau sind. In einem Song hört man auf einmal ein rhythmisches Geräusch, das klingt, als würde R2D2, der kleine tonnenartige Roboter aus Star Wars, mittels seiner Pfeiff- und Surrtöne rappen oder singen. Schließlich finde ich den Ursprung: der Trompeter erzeugt diesen irrsinnigen Sound auf einer Rutschflöte (eine Flöte, auf der man die Tonhöhe wie bei einer Posaune durch einen Zug variiert, der das Instrument kürzer – hoher Ton - oder länger – tiefer Ton – macht), indem er in die Flöte bläst und gleichzeitig dabei singt... Das Show-Programm heißt "Best of 25 Years" und natürlich werden viele große Hits wie "Johnny", "Klar" und "Irgendwie Irgendwo Irgendwann" gespielt, aber auch mal so Dinger wie der unbekanntere Track "Showgeschäft". Und egal, welcher Sound das Zelt zum Beben bringt, er tut es auch, weil jeder Song nochmal für die Live-Präsentation ge-upped wurde, wie es neudeutsch so schön heißt – jedes Lied hat nochmal eine musikalische Frischzellenkur bekommen, sei es durch ausgefuchste, neue Bläsersätze oder ein verändertes Arrangement, und klingt nun noch besser als im Original. Als wäre das alles nicht genug, springt Jan Delay nonstop von einem Bühnenende zum
anderen, und wenn er gerade mal nicht singt, steuert er auf den Congas noch mehr zum Groove bei. Nicht alles ist nur Showgeschäft, nicht bei diesem Typen: nachdem das Publikum aus vier zur Wahl gestellten Reggae-Songs "Vergiftet" auswählt, verändert Mr. Delay die Lyrics des Songs von 2001, damit z.B. auch so Neuerscheinungen wie Elon Musk als vergiftet gebrandmarkt werden können. Einzige Ballade während der Show ist "Für immer und dich", wo sich viele Rio Reiser Fans gut und gerne darüber aufgeregt haben, dass Jan Delay diesen Song in ihren Ohren so verhunzt hat. Klar, an
den Soul von Rio kommt in Deutschland keiner so leicht ran, vor allem jetzt, wo Edo Zanki nicht mehr lebt und Xavier Naidoo sich den Aluhut aufgesetzt hat, aber ich begreife es als Hommage von Jan an Rio, und es ist halt eine der schönsten Liebeserklärungen in Liedform, egal wer sie singt, egal, wo sie erklingt.
Als es in die Schlußkkurve der Zugaben geht, gibt Disko No.1 nochmal richtig Gas, macht Gebrauch von dem Klangpotenzial mit so vielen Musizierenden auf der Bühne und rockt eine energiegeladene Version von Deichkinds "Remmidemmi". Davor biegt die Band während "Johnny" in ein wildes Medley ab, bei dem unter anderem ein astreines Cover von "Pumpin' up the Jam" erklingt – besser geht 90er-Jahre Live-Techno nicht, denn es geht hier um den Spaß an der Sache, der nur mit dem nötigen Ernst dabei so richtig lustig wird. Was gab es noch? Den Augenblick, wo das komplette Zelt eine Tanzchoreo mit Schritten nach links und wieder zurück nach rechts und immer so weiter machte, obwohl eigentlich gar kein Platz dafür da war, war ja ausverkauft. Und die Freeze-Choreo der Band, bei der auch Jan Delay selbst nicht wusste, wann die Band aufhört zu spielen, und man sofort in der Bewegung erstarren musste – sah
nicht schlecht aus auf der Bühne und sah auch ziemlich abgefahren bei 2800 Leuten im Publikum aus.
Die letzten Worte, die Jan Delay sagt, bevor er und Disko No.1 die Menschen im Zelt völlig fertig vom Durchtanzen, aber beseelt und glücklich in die Nacht entlassen, sind "Liebe. Liebe." Verstehe ich genau so.