Mehr Raum für die Wünsche von AsylbewerberInnen, mehr Kontrolle, mehr Strafumsiedlungen: Veränderung der Dublin-Regeln: Was der Vorschlag im EU-Parlament bedeutet

Veränderung der Dublin-Regeln: Was der Vorschlag im EU-Parlament bedeutet

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Plenarsaal des EU-Parlaments in Strasbourg
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Wikipedia/J. Patrick Fischer, CC BY-SA 3.0

Die sogenannte Dublin-Verordnung, die festlegt, welcher Mitgliedstaat der Europäischen Union für welche Asylsuchende zuständig ist, wird gerade überarbeitet. Einen entsprechenden Vorschlag hat die Europäische Kommission im Mai 2016 unterbreitet mit dem Ziel, AsylbewerberInnen europaweit gerechter zu verteilen.

Der Innenausschuss des Europäischen Parlaments befasst sich momentan mit diesem Entwurf und mit den Änderungsvorschlägen der liberalen Berichterstatterin Cecilia Wikström. Nach einer ersten Debatte vor zwei Wochen hatten die anderen Ausschussmitglieder bis vergangene Woche Donnerstag Zeit, um weitere Änderungsanträge zum Vorschlag ihrer Kollegin einzureichen.

Im folgenden Beitrag hat Matthieu zusammengefasst, was der Vorschlag der Berichterstatterin im Europaparlament bringen würde.

 

Skript:

Aktuelle Situation

Die gegenwärtig geltende Dublin-Verordnung sieht vor, dass Asylsuchende ihren Antrag in dem Mitgliedstaat stellen sollen, in welchem sie zuerst EU-Boden betreten. Falls sie dann weitergereist sind, dürfen sie in diesen ersten Mitgliedstaat zurückgeschickt werden. Das ganze Konstrukt brach 2015 zusammen, als die kleineren Mitgliedstaaten an den Aussengrenzen, allen voran Griechenland, nicht mehr fähig oder willens waren, MigrantInnen an ihren Grenzen zu kontrollieren. Sie liessen sie einfach zu ihren Wunschländern ziehen.

Signifikante Veränderungen zum gegenwärtigen Dublin-System

Die europäischen Institutionen überarbeiten vor diesem Hintergrund aktuell diese europäischen Regeln über die Zuständigkeit für Asylsuchende. Bei ihrer Pressekonferenz vor zwei Wochen erklärte die liberale Europaabgeordnete Cecilia Wikström in Bezug auf den Kommissionsvorschlag von Mai 2016:

O-TON Cecilia Wikström:

"Nun wurde es in diesem Vorschlag der Kommission völlig verändert. Und es enthält eine solidarische Massnahme, die sie "korrigierendes Verteilungsmechanismus" nennen. Es soll automatisch und für alle Mitgliedstaaten verpflichtend sein. Und auch alle Asylbewerberinnen sollen verpflichtet werden, es zu befolgen. Asylbewerber sollen ihr Ziel nicht frei wählen dürfen."

Cecilia Wikström erklärte, der Vorschlag der Kommission ziele nicht allein auf die Situation in Griechenland und Italien ab. Sondern es gehe darum, ein System zu etablieren, das funktionnieren würde, ganz gleich, an welcher Aussengrenze auch immer die meisten Flüchtlinge gerade kommen.

O-TON Cecilia Wikström:

"Der Kontext für den Kommissionsvorschlag wird die Situation im Mittelmeer sein, mit anderen Worten die Mitgliedstaaten Italien und Griechenland. Wenn aber etwas an den östlichen Grenzen passiert, in Weissrussland zum Beispiel, dann wären Polen und Litauen betroffen. Wenn etwas im Mittleren Osten passieren würde, dann wäre Zypern am Nächsten zum Mittleren Osten: Lediglich ein paar Kilometer entfernt. Undsoweiter undsofort.

Also handelt es sich mit diesem Vorschlag nicht nur darum, die Situation in den Mitgliedstaaten am Mittelmeer zu lösen. Sondern es sollte funktionnieren, wo auch immer wir einer Schwierigkeit begegnen. Und wir sollten ihr als Europa begegnen, nicht als einzelne Mitgliedstaaten."

Vorschläge bezüglich der Zuständigkeitsprüfung (pre-Dublin admissability checks)

Die Kommission sieht vor, dass es zunächst im Ersteinreiseland ein Verfahren darüber gibt, ob die EU überhaupt für den Asylantrag zuständig ist, oder ob sie ihren Antrag in einem sogenannten "sicheren Drittstaat" ausserhalb der EU hätte stellen sollen. Erst nach dieser Zuständigkeitsprüfung wollte die Kommission mit der europaweiten Umverteilung der Asylsuchenden anfangen.

Die Berichterstatterin im Europaparlament schlägt stattdessen vor, die Schutzsuchenden zunächst EU-weit zu verteilen, und erst dann die ganzen Zuständigkeitsverfahren durchzuführen. Diese Zuständigkeitsverfahren sollten aus ihrer Sicht in einer anderen Verordnung geregelt werden und optional sein.

O-TON Cecilia Wikström:

"Wir sollten nun zunächst den verantwortlichen Mitgliedstaat bestimmen, und dann die verschiedenen inhaltlichen Verfahren haben. Es wird mehr Transfers bedeuten, aber ohne diese Veränderung wird die Situation in den Mitgliedstaaten an der Frontlinie nie und niemals gelöst werden. Stellen Sie sich vor, wenn es 2015 der Fall gewesen wäre. Griechenland hätte über eine Million Zulässigkeitsprüfungen machen müssen."

Der Kommissionsvorschlag sah für die Schutzsuchenden eine europaweite Umverteilung nach einem Quotensystem vor. Vor allem bei diesem Punkt fordert die Europaabgeordnete Cecilia Wikström eine bessere Berücksichtigung der Schutzsuchenden, mit ihren Beziehungen und Wünschen.

Vorschläge für die Familienzusammenführung

Dazu zählt zum Beispiel ihr Vorschlag für eine leichtere Familienzusammenführung der ankommenden Asylsuchenden.

O-TON Cecilia Wikström:

"Sie sollten in den Mitgliedstaat umgesiedelt werden, in welchem sie behaupten, Familie zu haben. Es sei denn, es gibt einen offensichtlichen Grund, aus dem man annehmen sollte, dass jemand entgegen seiner Behauptung dort keine Familie hat. Und dieser Mitgliedstaat sollte prüfen, ob es stimmt.

Wenn es stimmt, dann ist alles in Ordnung, dann bleibt die Person und kann mit ihrer Familie leben. Und wenn nicht, wenn sie das System ausgenutzt und gelogen haben, dann werden sie natürlich mit dem korrigierenden Verteilungsmechanismus in jeden anderen Mitgliedstaat umgesiedelt. Nur nicht in den Mitgliedstaat, in dem sie eigentlich hin wollten und logen, um dorthin zu gelangen.

Und warum mache ich das? Nun, es soll vor Missbrauch abschrecken."

Die liberale Europaabgeordnete besteht also gleichzeitig auch auf repressiven Massnahmen für den Fall, dass die Schutzsuchenden die neuen Regeln nicht akzeptieren oder sie ausnutzen wollen. Diese Massnahmen sollten aus ihrer Sicht abschreckend wirken, werden aber auch sicherlich mehr Abschiebebürokratie bedeuten, was sie eigentlich im Vergleich zum Kommissionsvorschlag verringern wollte.

Wunschland berücksichtigen

Die Europaabgeordnete Cecilia Wikström schlägt ausserdem vor, dass sich Asylsuchende direkt für die Umsiedlung in ihren Wunschland bewerben dürfen. Sie verglich dieses System mit der Beziehungsbörse Tinder. Der Mitgliedstaat könnte bei jeder Bewerberin für die Umsiedlung entscheiden, sie zu übernehmen oder nicht.

O-TON Cecilia Wikström:

"Die Entscheidung würde komplett beim Mitgliedstaat bleiben, Ja oder Nein zu sagen. Aber der Anreiz, positiv zu antworten, wäre für Mitgliedstaaten ziemlich hoch. Denn viele Menschen werden sowieso umgesiedelt. Also warum nicht die Person aufnehmen, die ausdrücklich in diesen bestimmten Mitgliedstaat umgesiedelt werden will?"

Einführung einer Gruppenumsiedlung

Ein weiterer Vorschlag der Europaabgeordneten ist es, dass Asylsuchende sich als Familie oder gar als Gruppe von bis zu 30 Asylsuchenden registrieren und sich gemeinsam für die Umsiedlung bewerben dürfen.

O-TON Cecilia Wikström:

"Ich will auch, dass sich Asylbewerberinnen als Gruppe sowie als Familie registrieren dürfen. Sie wissen, dass manche der Flüchtlinge, die in ganz Europa auftauchen, alles hinter sich gelassen haben. Sie haben keine Familie, die mit ihnen reisen kann, und manche von ihnen reisen monatelang oder gar jahrelang gemeinsam.

Wenn diese also in einen bestimmten Mitgliedstaat verteilt werden, sollten sie das Recht haben, sich gemeinsam zu registrieren und gemeinsam umgesiedelt zu werden. Im Namen der Freundschaft, und weil diese Gruppe von Personen aus ihrer eigenen Sicht zusammen gehört. Sie haben sonst niemand. Aber auch in der Perspektive eines möglichen positiven Integrationsprozesses. Es ist einfacher, wenn jemand einen begleitet. Und es wird auch die administrativen Herausforderungen in den Mitgliedstaaten reduzieren."

Mit diesem Vorschlag hofft Cecilia Wikström darauf, dass migrantische Diasporas in bestimmte Mitgliedstaaten entstehen, in denen sich Asylsuchende integrieren, sodass sie gar nicht erst in andere Mitgliedstaaten weiterreisen möchten.

Zwangsumsiedlung als Abschreckung

Ihr Vorschlag ist jedoch bei weitem nicht nur wohlwollend zu den Wünschen von Asylsuchenden. Sondern sie besteht immer auf staatliche Kontrolle und auf Bestrafung. So zum Beispiel ihr Vorschlag, Asylsuchende mit einer Zwangsumsiedlung zu bestrafen, wenn sie sich nicht in einem Mitgliedstaat an der Aussengrenze registrieren.

O-TON Cecilia Wikström:

"Plötzlich taucht eine Person in Wien auf. Und natürlich, er oder sie kam über ein Mitgliedstaat, der an vorderster Front steht, es sei denn die Person kam mit einem Fallschirm.

Nun: Zur Abschreckung schlage ich vor, dass diese Person nicht die Möglickeit haben sollte, in Österreich zu bleiben und ihren Asylantrag von Österreich prüfen zu lassen. Sondern sie sollte mit dem automatischen Umsiedlungsmechanismus, dem "korrigierenden Verteilungsmechanismus", in jeden anderen Mitgliedstaat umgesiedelt werden, nur nicht in Österreich.

Denn wir müssen sekundäre Bewegungen vermeiden. Wir wissen, dass Menschen versuchen, vom Radar zu verschwinden. Und am Ende werden sie vermisst."

Diese Kontrollmassnahme erklärte sie damit, man wolle verhindern, dass sich Asylsuchende, unregistriert in die EU bewegen, verschwinden und womöglich ausgebeutet werden. Sie verwies auf den Fall von geschätzten Tausenden unbegleiteten Minderjährigen, die im vergangenen Jahr in Deutschland und Schweden verschwanden.

Die Regel: Der Umverteilungsmechanismus, wenn Mitgliedstaaten überfordert sind

Die Kommission hatte vorgeschlagen, die automatische Umsiedlung von Asylsuchenden auszulösen, sobald die Aufnahmekapazitäten eines Mitgliedstaats um mehr als 150 Prozent überlastet sind. Die Europaabgeordnete schlägt stattdessen vor, diese automatische Umsiedlung bereits dann zu starten, wenn die Aufnahmekapazitäten zu 100 Prozent erschöpft sind. Die Umsiedlung sollte erst dann wieder aufhören, wenn die Aufnahmekapazitäten in diesem Staat zu weniger als 75 Prozent belegt sind. Das würde aus ihrer Sicht vermeiden, dass Staaten ständig in und aus dem Umverteilungsmechanismus genommen werden. Und es würde ihnen Zeit lassen, die Aufnahmesituation zu stabilisieren.

Die Quoten für die Umverteilung sollten aus der Sicht von Cecilia Wikström innerhalb der nächsten 5 Jahren graduell eingeführt werden, sodass sich die Staaten mit geringeren Aufnahmekapazitäten anpassen können. Sie meinte, dass die Staaten, die sich momentan am stärksten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sträuben, für diesen Vorschlag ziemlich offen gewirkt hätten.

Die Kommission hatte vorgeschlagen, dass sich Staaten von der Umverteilung ausnehmen dürften, wenn sie 250.000 Euro pro nicht umgesiedelte Asylbewerberin bezahlen würden. Diesen Vorschlag lehnte die Europaabgeordnete Cecilia Wikström strikt ab, unter anderem aus dem ethischen Grund, dass es Menschen einen Geldwert geben würde. Stattdessen schlug sie vor, dass die Europäische Union die Auszahlung von Strukturfonds an Mitgliedstaaten verweigern darf, die sich nicht an der Umsiedlung von Schutzsuchenden beteiligen.

Die Ausnahme: Eine "Notbremse" gegen Mitgliedstaaten, die nicht genug mitmachen

Die MinisterInnen der Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union wollten selbst dafür zuständig sein, den Umverteilungsmechanismus auszulösen. Das lehnte die Europaabgeordnete Cecilia Wikström ab. Sie sagte voraus, dass die Mitgliedstaaten den Umsiedlungsmechanismus in diesem Fall nie auslösen würden. Stattdessen schlägt sie vor, dass der Umsiedlungsmechanismus grundsätzlich gilt, es sei denn, die Mitgliedstaaten im Rat ziehen eine sogenannte Notbremse. Diese Notbremse könnte die Umsiedlung von Flüchtlingen aus einem bestimmten Mitgliedstaat stoppen, der sich nicht an seine Pflicht hält, die EU-Aussengrenze zu kontrollieren und Asylsuchende zu registrieren.

Rigide Zuständigkeitsregeln

Bislang konnten Asylsuchende, die sich etwa in Italien registriert haben, einen Asylantrag in Deutschland stellen, wenn sie nach Deutschland weitergereist und seit sechs Monaten hier leben. Das soll künftig nach der Umsiedlung nicht mehr möglich sein. Da sind sich die Kommission und die Berichterstatterin im Europaparlament einig. Doch im Gegensatz zum Kommissionsvorschlag fordert die Europaabgeordnete, dass Artikel 19 der Dublin-Verordnung bestehen bleibt. Dieser sieht vor, dass weitergereiste Asylsuchende gegen ihre Abschiebung in das Land klagen dürfen, das für ihren Asylantrag verantwortlich ist. Das Gericht muss dann unter anderem prüfen, ob die rechtliche und faktische Lage für Asylsuchende in diesem Mitgliedstaat angemessen ist.

Bilanz

Zusammenfassend: Im Vergleich zum gegenwärtigen Dublin-System und zum aktuellen Kommissionsvorschlag will die liberale Europaabgeordnete Cecilia Wikström mit ihrem Bericht fast von Anfang an mehr Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Die Staaten an den Aussengrenzen sollen mit direkten und verpflichtenden Umsiedlungen entlastet werden. Der Bericht von Cecilia Wikström würde einige Verbesserungen bringen, was die Berücksichtigung der Wünsche und Beziehungen von Asylbewerberinnen angeht. Aber gleichzeitig besteht sie in ihrem Bericht auf staatliche Kontrolle und bei Bedarf auf die bestrafende Umsiedlung der Asylsuchenden.

Die Europaabgeordnete zeigt sich überzeugt, dass ihre Änderungsvorschläge am Kommissionsvorschlag in Parlament und Rat mehrheitsfähig sind. Sie habe sie schliesslich mit den verschiedenen Fraktionen und mit den VertreterInnen der Mitgliedstaaten besprochen, insbesondere mit den Staaten, die – wie sie verharmlosend erklärte – besonders "zögerlich" bei der Aufnahme von Flüchtlingen sind.