Die Retrospektive in Locarno widmet sich der Geschichte der japanischen Animes.
Aus Locarno: Eine Einführung in die Welt der Animes von Alexander Sancho-Rauschel.
Heute war Japan-Tag. Alle sagen Manga - dabei sind es natürlich
Animes (also japanische Zeichentrickfilme), nicht Mangas (japanische
Comics), die auf den Leinwänden laufen. Besserwisserei? Nicht untypisch
für die Zunft der Schreiberlinge. Also mich einbegriffen: Animes!
Genauer gesagt war es heute der Tag der Kriegsverarbeitungs-Animes. Während das Ende des 2. Weltkriegs, Niederlage und Bombardierungen
Japan ähnlich wie Deutschland traf und ebenso zahlreiche Städte bei der
kapitulation in Schutt und Asche lagen (in den angegriffenen
Nachbarländer natürlich auch), wurde der Krieg nach dem Zusammenbruch
des autoritären Regimes völlig anders verarbeitet als im Westen.
Die
Amerikaner verzichteten angesichts des japanischen Ehrenkodex auf eine
anhaltende Besatzung des Landes, so etwas wie die "Entnazifizierung" in
Deutschland fand in Japan nicht statt, der verlorenen Krieg, Leid und
Niederlage wurden in breiten Kreisen der Gesellschaft als Schande
empfunden und weitgehend tabuisiert. Tat sich bereits Deutschland
schwer damit, mit der Bürde der Vergangenheit und der eigenen
Schuldfrage umzugehen, so war es in Japan mit seinen Traditionen, der
Verehrung des Kaiserhauses und seinem strengen Ehrenkodex fast
unmöglich, diese Schande zu thematisieren und aufzuarbeiten.
Aber: Das kollektive Unterbewusstsein verlangt natürlich dennoch eine
Verarbeitung des Geschehenen und Erlebten, und sei es in kodierter Form.
Timothy
Simms vom aka filmclub resp. heute Kommunalen Kino in Freiburg hatte in
einem Vortrag vor einigen Jahren anschaulich darauf hingewiesen, wie
Godzilla als Monster, das durch die Radioaktivität geboren worden war,
mit seinen zerstörerischen Fusstapfen japanische Städte in Schutt und
Asche legte und damit als Metapher für die Atombombe fungierte, bis er
schrittweise von der externen Bedrohung zum internen japanischen
"National-Monster" mutierte, dem lieben Beschützer, den sich Kinder als
Plüschmonster abends zum Einschlafen mit ins Bett nehmen.
Aber auch andere Formen der Populärkultur widmeten sich dem
heiklen Thema. Anstelle von Realfilmen bot es sich angesichts der
langen japanischen Bildertraditionen an, den Stoff in gezeichneten
Bildern umzuwandeln und zu verfremden.
Eine faszinierende Zusammenstellung japanischer Zeichentrick-Kurzfilme
mit Kriegs- und Nachkriegsfilmen zeigte hier in Locarno die Abgründe
der Kriegspropaganda mit zum Teil unglaublichen Filmen. In "Madame
Butterfly's Fantasy" von 1940 begeht eine vornehme Dame Selbstmord,
weil sie ihren Gatten, der im Krieg ist, betrogen hat (wenn ich den
etwas komplizierten Scherenschnitt-Film richtig verstanden habe), in
"Fukuchan's Submarine" von 1944 fährt eine niedliche siebenköpfige
Unterseeboot-Besatzung mit Knubbelnasen in ihrem U-Boot durch die Meere
und versenkt mit ihren Riesentorpedos fröhlich feindliche Fracht- und
Kriegsschiffe. Sie fangen böse Amerikaner und werfen sie vergnügt den
Krokodilen zum Frass vor, aber diese rümpfen die Nase, sowas fressen
sie nicht, daher muss man die Feinde im Meer ertränken. Das
Frappierende an diesen Filmen ist, dass sie in der niedlichen, lustigen
Zeichenart eines Disney-Films mit netten Figuren und beschwingter
Animationsfilm-Musik abgründigste Kriegs-Greueltaten verharmlosen.
Anders dann die Nachkriegsfilme: Mit einem Zauberstift läuft in
"A magic Pen" (Bild) von 1946 ein kleiner Junge durch die zerstörten
Trümmerlandschaften und zaubert aus den noch rauschenden Ruinen
zerbombter Wohnhäuser neue Häuser und Villen für sich und seine Lieben,
eine Phantasie, die man so auch in Deutschland hätte produzieren
können, wenn Deutschland eine vergleichbare Zeichentrickkultur gehabt
hätte.
In "Gulliver's great Activities" von 1950 wird der Riese Gulliver von
den Zwergen erst als Bedrohung empfunden und gefangen, dann aber als
gutwilliger Helfer gegen Ueberschwemmung und Feuersbrunst zum Retter in
der Not. Er löscht die Brände, rettet die Städte und alles wird gut.
Bewegender
als diese einfachen Kurzfilme aber ist das erst in den 80er jahren
entstandene Meisterwerk "Grave of the Fireflies" von Regisseur Isao
Takahata vom renommierten Ghibli Studio, der in seinem wunderschön
gezeichneten, sehr emotionalen Werk schonungslos das Leiden und die
Armut der letzten Kriegsjahre anhand eines Jugendlichen und seiner
kleinen Schwester zeigt. Zwei Waisen, die nach dem Tod der Eltern im
Krieg hungern und ohne Dach über dem Kopf in einer Höhle ztu überleben
versuchen. Ein Animationsfilm fuer Erwachsene, sehr düster, aber
ungemein poetisch und anrührend. Grosse Empfehlung, gibt es auch bei
uns auf DVD, glaube ich.