Kommentar zum Anschlag von Bottrop: Nach den Betroffenen fragen

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Nach den Betroffenen fragen

In Bottrop fuhr in der Silvesternacht ein Mann mit dem Auto durch die Stadt und fuhr mit seinem Wagen mehrere Menschengruppen an und verletzte mehrere Personen, teilweise schwer. Laut Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul hatte der 50-jährige Täter "die klare Absicht, Ausländer zu töten".

Der Angriff wurde unter verschiedenen Schwerpunkten diskutiert. Einer drehte sich darum, ob es sich bei der Tat um einen Terroranschlag gehandelt habe (so betitelte die taz einen Beitrag am 1. Januar mit "Rassistscher Terroranschlag") oder ob es sich um die Amokfahrt eines psychisch gestörten gehandelt habe. Derzeit überwiegt die Einschätzung, der Mann habe psychische Probleme, und seitens Polizei wird davon ausgegangen, er habe "aus persönlicher Betroffenheit" gehandelt, was auch immer das heißen mag.

Dieses Motiv taucht nicht zum ersten mal auf. Im Fall der von Neonazis begangenen NSU-Mordserie fiel nach einer langen Reihe von Ermittlungen in der sogenannten "Community" der Opfer erstmals der Verdacht auf das rechtsextreme Millieu, wobei die zuständigen Behörden jedoch umgehend ein persönliches Rachemotiv unterstellten. Auch im Fall des Münchener Attentäters David Sonboly, der 2016 inspiriert durch den rechtsextremen Massenmörder Anders Breivik eine rassistisch motivierte Mordserie vor dem Münchener Olympia-Einkaufszentrum beging, wurde die Tat mit Mobbing und seiner unerwiderten Liebe für ein türkisches Mädchen angeführt.
Die Liste ähnlicher Fälle ist lang. Und für ein Gericht mag die psychische Verfasstheit und ein unmittelbares persönliches Motiv zwar von Belang sein. Aber solche Bedingungen müssen kein Ausschlusskriterium für eine politisch motivierte Tat sein.

Dies betonte auch der Soziologie Matthias Quent gegenüber der taz, die ausführlich über den Bottroper Fall berichtete. Gegenüber der tageszeitung bezeichnet der Sozialforscher die Tat von Bottrop als "vigilantischen Terrorismus", eine Terrorform, die Machtverhältnisse nicht verändern, sondern sie beibehalten will. Diese Fälle von Terrorismus, zu denen zum Beispiel auch Taten wie Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte zählen können, werden oft von zuvor unauffälligen Personen begangen, die sich schnell radikalisieren.

Welche persönlichen, sozialen oder gesundheitlichen Gründe Taten wie der von Bottrop auch zugrunde liegen mögen: Für die Betroffenen wird spätestens mit dem Bekanntwerden der Tat und mit ihrer medialen Aufbereitung aus einer möglichen Einzeltat Terrorismus. Wenn überall in Deutschland immer wieder vermeintliche Einzeltäter rassistische Morde und Körperverletzungen begehen, dann ist das für die Betroffenengruppe Terror.

Aber auch eine andere Debatte wurde durch die Tat von Bottrop angestoßen. Die Aussage des NRW-Innenministers wurde dafür kritisiert, dass sie dem Täter letztlich nach dem Mund rede, wenn er die Betroffenen des Anschlags implizit als "Ausländer" bezeichne, ohne dabei deren Staatsbürgerschaft zu meinen. Große Zeitungen sprachen von einem "fremdenfeindlichen" Anschlag und wiederholten damit die Fremdmarkierung des Attentäters, die sich an rassistischen merkmalen orientierte und nicht etwa an der regionalen Herkunft. Immerhin interessierte sich der Täter bei seiner Tat weder für den Pass, noch für den Sozialisationshintergrund seiner Zielpersonen.

Geschieht eine Tat wie die von Bottrop, ist das öffentliche Interesse an der Nationalität und dem möglichen politischen Hintergrund des Täters oder der Täterin mittlerweile häufig groß. Medien und Ermittlungsbehörden gehen mit diesen Informationen von Fall zu Fall anders um, betonen sie zuweilen oder versuchen, sie nicht zu thematisieren. Die Frage, ob es sich um Terrorismus handelte, folgt auch nicht selten und reiht sich in den Versuch ein, die Tat in ein Schema einzuordnen, das eigentlich gar nicht klar bestimmt ist. Wer könnte schon aus dem Stand eine allgemeingültige Definition von Terrorismus liefern?

Das öffentliche Interesse für die Betroffenengruppe hingegen ist selten groß. Im Fall von Bottrop hatten die Äußerungen des Täters selbst das Auge der Öffentlichkeit schnell auf das rassistische Motiv der Tat gelenkt. In anderen Fällen geschieht dies nicht oder nur schleppend. Antisemitische, rassistische oder auch frauenfeindliche Attentate, wie die Messerattacken von Nürnberg im letzten Monat - im übrigen auch ein Fall sogenannter "persönlicher Betroffenheit", denn die Freundin des Täters hatte sich getrennt - treten als solche oft nur in Erscheinung, wenn Betroffenengruppen massive Öffentlichkeitsarbeit betreiben oder die Täter*innen ihr Motiv klar benennen.

Für alle öffentliche Berichterstattung, für öffentliche und private Diskussionen und nicht zuletzt für Ermittlungsbehörden sollte diese Dimension eine große Rolle spielen, insbesondere in der Frage, ob es sich bei einer Tat um Terrorismus handelt. Terrorismus funktioniert nur, wenn er kommuniziert wird. Sei dies offiziell, wie im Fall von Bottrop oder unterschwellig, wie bei der Messerattacke von Nürnberg, die vielleicht nicht als Terror angedacht war, jedoch genau das leistet, was der Begriff bedeutet: Sie verbreitet Schrecken unter Frauen, die so aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden. Hier reicht allerdings nicht nur das statistische Auszählen der Hintergründe der Betroffenen: Auch das Klima, in dem eine Tat entsteht, muss thematisiert und kritisiert werden. Wie der taz-Redakteur Konrad Litschko in einem Bericht zu Bottrop betont, radikalisieren sich die Täter in derart uneindeutigen Fällen oft schnell und dazu gehört auch die geistige Brandstiftung derer, die keine direkten Taten begehen. Öffentliche Frauenverachtung, Rassismus, Antisemitismus und sonstige Hetze bilden die Grundlage für Terroranschläge. Wer eine Tat verstehen will, muss daher fragen, wer oder was die Täter*innen inspirierte. Welche Zeitungen hat die Person gelesen? Welche Internetforen besuchte sie? Welche öffentlichen Bezugspersonen hat sie gehabt? Und wer den ideologischen Grundstoff für solche Taten liefert, sollte sich auch öffentlich dafür verantworten müssen.