MigrantInnen und Nichtregierungsorganisationen klagten gegen Räumung eines Flüchtlingscamps am Ärmelkanal: Nicht nur in den USA wird der Ausnahmezustand für migrationspolitische Zwecke missbraucht

Nicht nur in den USA wird der Ausnahmezustand für migrationspolitische Zwecke missbraucht

In den vergangenen Monaten wurde in den Medien viel berichtet über den Streit zwischen Trump und den Demokraten rund um die Finanzierung der Mauer an der mexikanischen Grenze. Diese intensive Berichterstattung ist sicherlich verständlich durch den starken nationalistischen Beigeschmack und den Ausmass des Vorhabens, durch die zahlreichen Betroffenen und nicht zuletzt durch die Eskalation des Streits. Immerhin kam es dadurch zur historisch längsten Schliessung von US-amerikanischen Bundesbehörden und zur Verhängung des Ausnahmezustands.

Doch die Verwendung des Ausnahmezustands in der Migrationspolitik ist keine US-amerikanische oder rechtspopulistische Eigenart. Da braucht man nur auf das Nachbarland Frankreich zu schauen.

 

Anfang Februar befasste sich das Verwaltungsgericht der nordfranzösischen Grossstadt Lille mit der Klage von MigrantInnen und Nichtregierungsorganisationen gegen die Räumung eines informellen Flüchtlingscamps am Ärmelkanal. Einer der Vorwürfe lautete dabei, die Behörden hätten den damals geltenden Ausnahmezustand für migrationspolitische Zwecke missbraucht. Dabei war der Ausnahmezustand eigentlich für die Terrorismusbekämpfung verhängt worden.

Ort des Geschehens war Grande-Synthe, eine Vorstadt von Dünkirchen am Ärmelkanal. In den dortigen Brachen und Wäldern hatten sich Hunderte Menschen in Zelten und selbstgezimmerten Behausungen niedergelassen. Darunter viele Menschen aus dem Mittleren Osten, von denen viele auf eine Überfahrt in das Vereinigte Königreich hofften.

Die kritisierte polizeiliche Räumung erfolgte im Jahr 2017 auf Anordnung des Präfekten, also des örtlichen Vertreters der Zentralregierung. 600 Menschen mussten infolge dessen in Bussen einsteigen, die sie zu Flüchtlingsaufnahmeeinrichtungen (CAO) führten.

In diesen Einrichtungen soll die aufenthaltsrechtliche Situation der Personen überprüft werden. Die Menschen sollen dann gegebenenfalls vor die Wahl gestellt werden, in Frankreich einen Asylantrag zu stellen oder das Land zu verlassen.

Die Behörden bezeichneten die Massnahme auf französisch als "mise à l'abri", was man auf Deutsch mit "Schutz bieten" oder "unter Dach bringen" übersetzen könnte. Nichtregierungsorganisationen jedoch bezeichnen diese Massnahme als eine eindeutige Zwangsräumung. Sie begründen diese Einschätzung damit, dass den BewohnerInnen nicht angeboten wurde, freiwillig in festen Behausungen zu ziehen. Stattdessen habe die Polizei die BewohnerInnen eingekreist und habe mit Festnahmen gedroht, falls die Menschen nicht in den Bussen einsteigen würden. Die Polizei habe Zelte, Decken, Schlafsäcke und manche persönlichen Gegenstände zerstört. Mehrere Personen kamen in Abschiebehaft.

Nichtregierungsorganisationen beschönigten nicht die unwürdigen Lebensbedingungen der Menschen im informellen Flüchtlingscamp. Sie wollten aber, dass den Menschen würdige Wohnlösungen angeboten werden, anstelle einer Zwangsräumung.

Die Räumung hatte der Präfekt mit dem Gesetz von 1955 über den Ausnahmezustand begründet. Der Ausnahmezustand war seit den Anschlägen von 2015 in Kraft. Der Präfekt konnte es dadurch der Polizei erlauben, im Bereich des informellen Flüchtlingscamps die Identität von Menschen zu kontrollieren. Mit Verweis auf dasselbe Gesetz über den Ausnahmezustand verbat es die Polizei den VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen, während der gesamten Räumung dieses Gebiet zu betreten.

Drei ehemalige BewohnerInnen des informellen Camps und mehrere Nichtregierungsorganisationen klagten wie eingangs gesagt gegen diese Räumung. Sie halten es für nicht rechtmässig, dass der Präfekt auf diese Weise das Arsenal des Ausnahmezustands für migrationspolitische Zwecke entwand. Überhaupt betrachten sie die gesamte Räumung als nicht rechtmässig. Denn der Präfekt verfügte weder über eine entsprechende Entscheidung des Bürgermeisters noch der Justiz.

Dass die Zwangsräumung kaum eine Lösung für das Problem darstellte, zeigt sich darin, dass bereits eine Woche nach der Räumung 400 Menschen zurück in Grande-Synthe waren. Ein weiteres Indiz dafür, dass das Problem mit der Räumung von 2017 nicht gelöst wurde: Seitdem hätten sich die Räumungen gehäuft, auch in der Winterzeit. Allein seit Anfang 2019 habe es mehr als 10 Räumungen am Ärmelkanal gegeben. Diese Räumungen fänden weiterhin ohne rechtliche Grundlage statt, wie es selbst der französische Bürgerbeauftragte kritisierte.

 

Nachtrag zum Audio bzw. zur Nachricht: Das Urteil ist noch nicht gefallen bzw. es wurde in französischen Medien noch nicht darüber berichtet.

(mc)