Die französischen Behörden verfolgen aktuell eine Aktivistin von Amnesty International vor Gericht. Die Behörden werfen ihr vor, sie habe zwei unbegleiteten Minderjährigen aus Guinea beim irregulären Grenzübertritt von Italien nach Frankreich geholfen. Dafür drohen ihr nach französischem Recht bis zu 5 Jahren Haft und 30.000 Euro Geldstrafe.
Der Prozess sollte ursprünglich am Montag, den 8. Januar stattfinden. Doch der Richter vertagte die Anhörung auf den 14. Februar mit der Begründung, er wolle sich noch Kommunikationen und Dokumente von den französischen Behörden und dem Jugendamt holen.
Unterstützung in ihrem Prozess bekommt die 73-Jährige Aktivistin Martine Landry sowohl von Amnesty International als auch von der Anafé, einer Organisation, die sich für die Rechte von Ausländerinnen an den Grenzen einsetzt. Die Aktivistin ist Mitglied beider Organisationen. Beide Organisationen sind überzeugt, dass die Vorwürfe gegen die Aktivistin falsch sind. Sie kritisieren außerdem einen Prozess gegen die Solidarität, wie sie sich in den letzten Jahren gehäuft haben.
Über diesen Prozess und die Vorwürfe der Behörden gegen die Aktivistin Martine Landry hat Matthieu mit Laure Palun gesprochen, die den Verein Anafé koordiniert.
Manuskript:
Sie erklärte mir, dass der Einsatz Martine Landrys für die zwei minderjährigen Guineer eine Vorgeschichte hatte. Beide Jugendlichen waren kurz vor ihrer zweiten Einreise schon einmal in Frankreich angekommen. Zunächst waren sie mehrere Tage lang bei Cédric Herrou untergebracht worden, einem Landwirt, der im vergangenen Jahr überregional bekannt wurde. Er lebt an der französisch-italienischen Grenze und solidarisierte sich mit Migrantinnen und Flüchtlingen, indem er sie abholte, auf seinem Hof unterbrachte und zu den Behörden in Nizza begleitete.
Er wurde im vergangenen Jahr zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wegen Unterstützung von irregulär eingereisten Ausländerinnen. Im Rahmen des Verfahrens wurde Cédric Herrou in Gewahrsam genommen. Die Polizei durchsuchte sein Haus, nahm alle dort anwesenden Migrantinnen fest und wies sie nach Italien zurück.
Unter diesen Migrantinnen befanden sich die beiden unbegleiteten minderjährigen Guineer, obwohl Cédric Herrou sie zuvor beim Jugendamt gemeldet hatte. Das Jugendamt hatte ihn vor seiner Festnahme informiert, dass es die Jugendlichen bei ihm abholen würde.
Laure Palun erklärt, was anschließend mit beiden Minderjährigen passierte.
„LP: Sie wurden von Frankreich nach Italien zurückgeschickt, obwohl die Verwaltung wusste, dass sie beide minderjährig sind – denn sie waren beim Jugendamt gemeldet worden.
Daraufhin wurden beide Minderjährigen der italienischen Polizei übergeben. Die italienische Polizei hat sie am 28. Juli zu Fuß zurückgeschickt. Martine Landry hat sie abgeholt, als sie die Grenze überquert hatten, und hat sie einige Meter zu Fuß begleitet, um sie zur französischen Grenzpolizei zu bringen. Sie hat den Antrag auf Betreuung durch das Jugendamt vorgelegt.
RDL: Können Sie erklären, warum die italienischen Behörden die Rückkehr dieser minderjährigen Guineer verweigert haben?
LP: Wenn sich ein Minderjähriger auf dem Boden eines Staates befindet, in dem Fall auf französischem Boden, darf ihn Frankreich nicht zurückschicken. Das leitet sich aus der UNO-Kinderrechtskonvention ab, die erklärt, dass sich Entscheidungen über Minderjährige nach dem Kindeswohl richten sollen. Bei Entscheidungen der Behörden ist es niemals im Sinne des Kindeswohls, dass das Kind zurückgewiesen wird, zumal wenn es unbegleitet ist. Außerdem ist der Staat dazu verpflichtet, diese Minderjährigen auf seinem Gebiet zu schützen, weil sie unbegleitet und daher besonders gefährdet sind.
Ab dem Moment, wo sich diese Minderjährigen auf französischem Boden befanden – sie waren bei Cédric Herrou – mussten sie betreut und geschützt werden und nicht zurückgewiesen werden. Die Zurückweisung der Minderjährigen verstieß also gegen internationales, europäisches und französisches Recht.
RDL: Kommen wir auf Martine Landry zu sprechen. Was wird ihr in Frankreich konkret vorgeworfen?
LP: Ihr wird vorgeworfen, sie habe die Minderjährigen von Italien nach Frankreich begleitet. Wir wissen jedoch, dass sie sie abgeholt hat, nachdem sie die Grenze passiert hatten. Ihr werden also tatsächlich die paar Meter vorgeworfen, die sie gegangen ist, damit die Minderjährigen von den französischen Behörden betreut werden, wie es vorher hätte sein müssen.“
Wie mir Laure Palun weiter erklärte, beruht das Verfahren auf einem Paragraphen des französischen Asyl- und Ausländerrechts, das von Aktivisten und Menschenrechtsorganisationen den Spitznamen "Solidaritätsdelikt" erhalten hat. Sie erklärt, worum es sich bei diesem Paragraphen handelt.
„LP: Es ermöglicht Strafverfahren gegen diejenigen, die Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel bei der Einreise, dem Verkehr oder dem Aufenthalt helfen. Ursprünglich wurde dieser Artikel im Gesetzbuch eingeführt, um Strafverfahren gegen sogenannte Schleuser zu ermöglichen. Das setzt voraus, dass die Person eine finanzielle oder materielle Gegenleistung erhält.
Doch seit mehreren Jahren stellen wir fest, dass dieses Vergehen von seinem ursprünglichen Ziel abgewendet wird, nämlich der Bekämpfung von Menschenhandel und von Schleusern, und dass es zunehmend für Repression und Strafverfahren gegen Personen benutzt wird, die Menschen im Exil helfen.
RDL: Richtet sich der Wortlaut dieses Artikels nur gegen Personen, die von ihrer Hilfe an Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel eine finanzielle oder andere Gegenleistung erwarten? Oder richtet es sich gegen alle Personen, die Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel helfen?
LP: Nach dem Wortlaut braucht es eine Gegenleistung. Dieser Artikel hat seinen Ursprung im Palermo-Protokoll von 2002, der Strafverfahren gegen Menschen vorsieht, die bei der Einreise, dem Verkehr oder dem Aufenthalt helfen. Doch das Palermo-Protokoll spricht von finanziellen oder anderen materiellen Vorteilen, während der französische Text von direkten oder indirekten Vorteilen spricht. Das ist etwas ganz anderes. Es gibt also ein Unterschied zwischen dem französischen und dem internationalen Recht. Das, was man direkte oder indirekte Vorteile nennt, kann viel breiter sein.
Ein Beweis dafür sind die letzten Entscheidungen des Berufungsgerichts Aix-en-Provence. Ihm zufolge kann es einen Vorteil darstellen, wenn eine Person Aktivistin ist oder sich für eine Sache einsetzt. Einfach weil sie aus politischer und humaner Überzeugung Menschen im Exil helfen und unterstützen, hat das Berufungsgericht entschieden, dass es eine Gegenleistung darstellt.“
Kurzum: Laut den letzten Urteilen des Berufungsgerichts Aix-en-Provence ist es schon eine Gegenleistung für Aktivistinnen, wenn sie einem Menschen im Exil helfen und damit nach ihren politischen und humanitären Überzeugungen handeln.
Diese Formulierung und Auslegung des Gesetzes widerspricht laut Laure Palun deutlich dem eben erwähnten Palermo-Protokoll und selbst dem ursprünglichen Geist des Paragraphen. Bei der Einführung dieses Vergehens sei übrigens extra eine humanitäre Klausel eingeführt worden, die Aktivisten und Helfer von Strafverfahren ausnimmt, wenn sie Menschen ohne Aufenthaltstitel bei dem Aufenthalt helfen.
Obwohl in den vergangenen Monaten Prozesse wegen des sogenannten Solidaritätsdelikts ungünstig für die Aktivisten ausgingen, ist Laure Palun überzeugt, dass die Vorwürfe gegen Martine Landry nicht haltbar sind und der Paragraph nicht zutrifft.
„LP: Martine wird also vorgeworfen, sie habe Menschen bei der Einreise und/oder dem Verkehr auf dem Gebiet geholfen. Was die Einreise betrifft, wird es ein Leichtes sein zu beweisen, dass sie die französische Grenze mit ihnen nicht passiert hat. Was den Verkehr angeht, ist es aus unserer Sicht kein Vergehen, sofern die Minderjährigen vom Jugendamt betreut werden sollten und von Frankreich illegal zurückgewiesen wurden.“
Zu diesem letzten Punkt erklärte mir Laure Palun weiter, dass Minderjährige nicht mehr als irreguläre Migranten betrachtet werden dürfen ab dem Moment, wo das französische Jugendamt bestätigt hat, dass es sie betreuen würde. Allein wegen dieser Tatsache könne es gar kein Vergehen gewesen sein, dass Martine Landry beide Minderjährige begleitete.
Schließlich erklärt Laure Palun, was der Verein Anafé von dem Prozess erwartet, abgesehen von einem Freispruch für Martine Landry.
„LP: Eine Frage, die sich jenseits des Solidaritätsdelikts beim Prozess von Martine Landry stellt, sind die ständigen Rechtsverletzungen durch die französische Verwaltung seit Monaten oder gar seit Jahren an der französisch-italienischen Grenze. Die französische Verwaltung weigert sich, Asylgesuche an dieser Grenze zu registrieren. Sie weigert sich, unbegleitete Minderjährige zu betreuen. Und sie beraubt diese Menschen ihrer Freiheit, bevor sie sie illegal zurückweist, ohne dass diese Menschen ihre Rechte oder menschenwürdigen Bedingungen genießen können.
Es ist auch eines unserer Ziele bei diesem Prozess: Erneut das Licht auf diese Rechtsverletzungen zu richten; und, abgesehen von der Abschaffung des Solidaritätsdelikts, auch Schutz für diese Menschen im Exil zu fordern, während sich die französische Regierung daran macht, zum x-ten Mal das Ausländer- und Asylrecht zu reformieren.“